Wildheuen im Schächenta UR © Matthias Gräub/Tierwelt

Wildheuen – eine faszinierende Schweizer Tradition

Im Familienarchiv bin ich auf einen Schwarzweissfilm aus den 1960er-Jahren gestossen. Er zeigt meine Vorfahren, die an einem Spätsommertag frisches Heu von ihrer Wiese im Rheintal holen. An einer Stelle sieht man, wie ein älterer Bauer eine Riesenladung Heu auf einen Schlitten packt, um ihn ins Tal zu transportieren. Ich wurde neugierig und fragte mich: Worum geht es eigentlich beim Wildheuen, gibt es diese Tradition immer noch?

Echte Schweizer Supermänner

Während Jahrhunderten haben Bauern in den Alpen übermenschliche Anstrengungen unternommen, um auch auf abgelegensten Wiesen Heu zu ernten. Jeden Sommer stiegen sie aus dem tiefen Tal auf ihre hochgelegenen Wiesen, wo sie das Gras von Hand mähten. Das nährstoffreiche Heu wurde während des langen, kalten Winters an das Vieh verfüttert.

Doch alles von Anfang an: Die Heuproduktion ist ein mehrstufiger Prozess, der im Frühsommer beginnt. Nach der Schneeschmelze werden Steine, Äste und andere Überreste des Winters aus den Wildheuflächen entfernt. Danach werden die Zugangswege ausgebessert und Erosionsstellen geflickt.

 

Wildheuen © Luzern Tourismus

Im Juli ist es Zeit für die Mahd. Bauern und saisonale Arbeitskräfte, gesichert durch Steigeisen und Seile, schneiden das Gras an den nahezu vertikalen Steilhängen. Trotz des technologischen Fortschritts (die Wildheuer tragen heute moderne Bergschuhe anstatt genagelte Holzschuhe) ist die grundlegende Herausforderung die gleiche geblieben: Wie bewegt man sich sicher in diesen Steillagen?

 

 

Im Spätsommer wird das Heu geerntet. Wenn Sonne und Wind das ausgebreitete Gras getrocknet haben, kehren die Wildheuer in die Planggen (steile Wiesen) zurück. Mit grossen Rechen kehren sie das Heu zusammen und stopfen es in riesige Netze, die bis zu 60 kg schwer sind.

Wildheuen im Schächental
Wildheuen im Schächental © Matthias Gräub/Tierwelt

Diese sogenannten Pinggel wurden früher im Winter auf Schlitten ins Tal transportiert. Heute sausen sie meist an Heuseilen hinunter. Im Kanton Uri mit seinen steilen Hängen hört man das Surren der fliegenden Pinggel schon aus der Ferne. Die effizienteste Art des Heutransports ist jedoch der Helikopter, der bis zu einer Tonne Heu in Minutenschnelle ins Tal bringt.

Gefährliche Arbeit

In der letzten Phase der Heuernte gibt es am meisten Unfälle. Das Hantieren der schweren und sperrigen Heuballen ist sehr gefährlich und erfordert Kraft, Geschicklichkeit und Bergerfahrung. Vor hundert Jahren fanden erfinderische Schweizer Bauern die perfekte Ernährung für den Sommer. Laut dem Wildheuer Alois Blättler bestand die Mahlzeit aus schwarzem Kaffee, der «reichlich gezuckert und mit mehr oder weniger Schnaps gewürzt wurde». Dazu wurde «Speck, Hauswürste, gedörrtes Rindfleisch, Käse und Brot» gegessen (Alois Blättler, 1944).

Schweizer Bauern
Schweizer Bauern © vilan24

Warum wird auch an abgelegensten Steilhängen Heu geerntet?

Für das Wildheuen sprechen nicht nur der hohe Nährstoffgehalt im Vergleich zu industriell produziertem Heu, sondern auch Lawinenschutzgründe. Auf gemähten Wiesen gerät Schnee nämlich weniger schnell ins Rutschen. An nicht gemähten Hanglagen werden die Grashalme im Herbst durch Regen und im Winter durch Schnee niedergedrückt, was die Erosion im Frühling begünstigt.

Ein weiteres Argument für das Wildheuen ist die Gesundheit der Schweizer Pflanzen- und Tierwelt. Die Steilhänge sind die meiste Zeit des Jahres unberührt, so dass zahlreiche Insekten und Wildblumen gedeihen können. Schmetterlinge und Wildbienen sammeln Nektar, während Raupen und anderes Getier an den saftigen Pflanzen knabbern. Wildheuflächen sind also ein echter Hort der Artenvielfalt.

Steilhänge
Steilhänge © JauNatur

Comeback des Wildheuens im Kanton Uri

Wann sind Sie zum letzten Mal im Spätsommer über eine Bergwiese gewandert? Haben Sie dabei den nostalgischen Geruch von frischem Heu wahrgenommen? Vermutlich schon, denn Wildheuen erlebt seit ein paar Jahren ein Comeback.

Infolge des technologischen Fortschritts in der Landwirtschaft und der mangelnden finanziellen Unterstützung war die jahrhundertealte Tradition vom Aussterben bedroht. Im Jahr 2013 lancierte der Kanton Uri jedoch ein Förderprogramm, um diesen wichtigen Brauch zu retten. Das Programm sieht besondere Beiträge für Bauern vor, die ihre abgelegenen Wildheuflächen von Hand mähen und schwer zugängliche Wiesen erhalten.

Wildheuen © Luzern Tourismus
Wildheuen © Luzern Tourismus

Plus de cent fermiers ont choisi de se lancer dans l'aventure de la fenaison depuis lors et ce petit canton revendique un tiers des prairies de foin sauvage de Suisse. Quelque deux douzaines de sites sont situés sur le Rophaien et à Isenthal, où la fenaison en altitude est une tradition vivante. Grâce à ces efforts soutenus, les pâturages de foin sauvage ont été désignés paysage de l’année 2016. (Source: http://www.sl-fp.ch.)

Inzwischen machen über 100 Bauern mit, so dass der kleine Kanton Uri über ein Drittel aller Wildheuflächen der Schweiz verfügt. Rund zwei Dutzend Wildheugebiete liegen am Rophaien und in der Gemeinde Isenthal, wo die Tradition des Wildheuens auch heute noch gelebt wird. Dank dieser Anstrengungen wurden die Wildheugebiete zur Landschaft des Jahres 2016 ernannt.

Wo wird heute noch Wildheu geerntet?

Wer sich für Geschichte und Brauchtum interessiert, kann Wildheuern auch heute noch an verschiedenen Orten bei der Arbeit zuschauen. Wenn Sie in den Bergen einen Laubbläser hören, können Sie sicher sein, dass hier auf moderne Art und Weise Heu geerntet wird. Wildheuer gibt es nur auf über 1500 m ü. M., zum Beispiel an folgenden Orten:

  • Berner Oberland: Niesenflanke, Brienzer Grat, Saanenland, Kandertal
  • Glarus: Brandalp (Ennenda), Bischoff (Elm), Glattalp (Engi), Ahornen (Näfels)
  • Graubünden: Avers, Hinterrhein, Rheinwald
  • Obwalden: Stanserhorn, Pilatus, Sachseln, Lungern, Engelberg
  • Nidwalden: Stanserhorn, Buochserhorn, Oberrickenbach, Haldigrat oberhalb von Niederrickenbach
  • Schwyz: Fronalpstock, Muotathal
  • Tessin: Monte Generoso, Arogno
  • Uri: Rophaien (Flüelen)
Wildheuen
© Klaus Wäscher/Landwirtschaftlicher Informationsdienst

Kleines Wildheuer-Glossar

Dengeln/Dängelen {Verb}: Verfahren zum Schärfen einer Sense.

Mähen {Verb}: effizientes Grasschneiden mit einer Sense. Gras sauber zu mähen erfordert jahrelange Übung. Am besten lässt sich das Gras mähen, wenn es noch feucht vom Tau ist.

Pinggel {Substantiv}: riesiger Heuballen, der von einem Netz zusammengehalten wird.

Planggen {Substantiv}: nahezu vertikale Wiesen, die zu steil sind für Kühe, aber perfekt für Schafe und Geissen – und für die Wildheuernte.

Triste {Substantiv}: traditionelle Vorrichtung zur Heulagerung im Freien. Um einen in den Boden gerammten Baumstamm wird ein sogenanntes Tristbett aus Steinen und Ästen angelegt. Das Heu wird um den Stamm herum aufgeschichtet, so dass es durch sein Eigengewicht stabilisiert wird.

Wildi {Substantiv}: Wildheugebiet.

Authentische Bilder
Authentische Bilder © vilan24

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