Profiradsportlerin und Ärztin – das Doppelleben der Schweizerin Élise Chabbey
Die 27-jährige Élise Chabbey ist eine vollendete Allround-Athletin. 2012 nahm sie als Kanutin im Slalom der Einer-Kajaks an den Olympischen Spielen in London teil. 2017 wurde sie beste Schweizerin im klassischen Bergrennen Sierre–Zinal. 2020 engagierte sich die Genferin, die auch Ärztin ist, auf dem Höhepunkt der Coronakrise am Universitätsspital Genf. Das hinderte sie nicht daran, wenige Wochen später Schweizer Strassenmeisterin zu werden. Ein erstaunliches Doppelleben.
Die Genferin Ärztin und Profi-Radrennfahrerin Élise Chabbey ist eine junge Frau mit vielen Talenten. Im Frühjahr 2020 arbeitete sie am Universitätsspital Genf, um während der ersten Coronawelle ihren Beitrag zu leisten. Als die Radsaison im Herbst wiederaufgenommen wurde, schwang sie sich wieder auf den Sattel und der Erfolg liess nicht auf sich warten. Sie gewann ihren ersten Schweizer Meistertitel im Strassenrennen und belegte den 24. Platz beim Giro, nachdem sie lange unter den Top 10 platziert war.
Der Giro ist das härteste Rennen im Frauenradsport: 11 Tage nonstop, mit Bergetappen, die unter anderem über den 2600 Meter hohen Gavia-Pass, einen der höchsten Alpenpässe, führen. «Am Ende der vierten Etappe habe ich gelitten, weil ich nicht genug Kilometer in den Beinen hatte. Dazu kommt, dass ich für solche Anstiege zu schwer bin. Aber ich beisse mich durch: Ich war oft die Letzte, die unsere Teamleaderin, die Neuseeländerin Mikayla Harvey, begleitete, die 5. in der Gesamtwertung wurde. Der Radsport ist auch ein Teamsport, bei dem sich jede für die anderen einsetzt.»
Am wohlsten fühlt sich die Etappenjägerin bei klassischen Eintagesrennen wie Lüttich–Bastogne–Lüttich, wo sie den 13. Platz belegte. «Die hügelige Strecke liegt mir noch mehr, wenn es kalt ist und regnet. Ich bin hart im Nehmen. Andere Frauen haben Angst bei der Abfahrt, ich mache mir da kaum Gedanken.»
Nach dem erfolgreichen Abschluss ihres sechsjährigen Studiums hatte Élise Chabbey 2020 eine einjährige Auszeit genommen, um sich ganz dem Radsport zu widmen. Aber das Virus hat ihre Pläne über den Haufen geworfen.
«Im März waren wir unterwegs zum Eintagesrennen Strade Bianche in der Toskana, als wir kurz nach dem Gotthard erfuhren, dass die Veranstaltung abgesagt war. Nun, das kam nicht ganz unerwartet.» Kurz darauf erklärte sie sich auf Anfrage ihres Masterstudiengang-Leiters bereit, am Universitätsspital Genf einzuspringen. Es folgten drei intensive Monate, während denen sie teils auf COVID-Abteilungen, teils in der Inneren Medizin arbeitete. Sie haben viele frischgebackene Ärztinnen und Ärzte wie mich geholt. Die Betreuung war gut, ich wurde nie allein gelassen. Ich war sehr motiviert.» Trotz 12-Stunden-Schichten im weissen Kittel gelang es der Radrennfahrerin, ihre Form zu bewahren. «Unter der Woche joggte ich ins Krankenhaus und zurück und am Wochenende verbrachte ich 4 bis 5 Stunden pro Tag auf dem Fahrrad. Ich bin gerne draussen, bei jedem Wetter, um Kilometer zu bolzen.»
Die Genferin ist eine Ausnahmeerscheinung im Frauenradsport. Sie ist eine der wenigen, die neben dem Rennsport ein langes Studium absolviert haben. Beides unter einen Hut zu bringen, war nicht immer einfach. Ihren ersten Giro im Jahr 2019 bestritt sie zwei Wochen vor ihren Abschlussprüfungen. «Ich nutzte alle Reisezeiten und die Abende nach den Etappen zum Lernen. Mental war es sehr anstrengend.» Zum Radfahren ist das sportliche Multitalent erst spät, vor knapp vier Jahren gekommen – und eher durch Zufall. «Ich war eine begeisterte Läuferin; dann habe ich mich verletzt, und weil mein Knie schmerzte, stieg ich während der Reha auf das Fahrrad um. Gleich bei den ersten Rennen stellten sich die Erfolge ein. Auf dem Rad zählt Cardio mehr als Technik, und wie so oft hat es mich einfach gepackt.»
Obschon er Ikonen wie Jeannie Longo hervorgebracht hat, fristet der Frauenradsport eher ein Schattendasein. Der Sieger des Giro bei den Männern erhält 500’000 Euro; bei den Frauen sind es 5000 Euro, also hundertmal weniger. «Das ist lächerlich, und es tut weh», empört sich Élise. Von den 200 Profi-Fahrerinnen können meines Wissens nur etwa 40 vom Radsport leben. Aber man kann immerhin etwas Geld verdienen, was nicht bei allen Frauensportarten der Fall ist.» Dank verbessertem Ranking hat die Genferin für die nächste Saison beim Canyon Sram Team unterschrieben, einem der acht besten Teams auf der World Tour, das ihr einen Mindestlohn von 36’000 Franken garantiert. «Pro Jahr, nicht pro Monat», fügt Élise ironisch hinzu. Angesichts des Generalverdachts, dem sich der Radsport ausgesetzt sieht, zögerte Élise, bevor sie sich auf das Profi-Abenteuer einliess. «Du wirst dich dopen müssen», sagte meine Mutter stets. Zwei Jahre später sieht es die Genferin gelassener. «Man hat mir noch nie etwas angeboten. Wir müssen ständig melden, wo wir uns aufhalten. Ich werde im Schnitt vier Mal pro Monat unangekündigt kontrolliert, manchmal kreuzen sie um fünf Uhr morgens bei mir zuhause auf. Das hat sicher eine Wirkung. Ich will damit nicht sagen, dass es im Frauenradsport kein Doping gibt, aber weniger als bei den Männern. Zweifellos, weil weniger Geld im Spiel ist.»
Ihr Traum ist es, an den um ein Jahr verschobenen Olympischen Spielen 2021 in Tokio teilzunehmen. Sie bewerben sich zu zweit um den einzigen Startplatz der Schweiz: Sie und Marlen Reusser, eine ihrer besten Freundinnen auf der Tour. «Sie ist stark im Zeitfahren, ich im Strassenrennen. Wenn Swiss-Cycling kein zweites Ticket ergattert, kommt es zum Duell zwischen uns», lächelt Élise. «Wenn es sein muss, werde ich ihre Reifen aufschlitzen», scherzte sie kürzlich im Westschweizer Fernsehen. Sollte sie sich qualifizieren, wird die Genferin zum zweiten Mal an Olympischen Spielen teilnehmen – nach London 2012, wo sie als Kajak-Kanutin mit dabei war. «Ich war 19 Jahre alt, 15’000 Zuschauer sorgten für Stimmung rund um das Becken, und die Atmosphäre im Olympischen Dorf war grandios. Es wäre wirklich cool, in einer anderen Disziplin noch einmal an Olympischen Spielen starten zu dürfen.»
Kajakfahren liegt im Blut der Familie Chabbey. «Schon meine Eltern und Grosseltern übten den Sport aus. Meine beiden Brüder, meine Schwester und ich verbrachten einen guten Teil unserer Ferien mit Paddeln in der Ardèche.» Élise ist ein sportliches Multitalent. 2017 wurde sie beste Schweizerin im Bergrennen Sierre–Zinal. Im Winter hält sie sich mit Langlaufen fit. «An Ruhetagen bin ich unglücklich. Ich habe Mühe, mir eine Fernsehserie anzuschauen, es langweilt mich. Also koche ich oder arbeite im Garten.»
Die Familie Chabbey, die ursprünglich aus Ayent im Wallis stammt, lebt seit drei Generationen in Genf, wo der Vater ein Tiefbauunternehmen betreibt. Die Grossmutter, eine Zahnärztin, gab den Ausschlag dafür, dass sich Élise für die Medizin entschied. Ihre berufliche Karriere hätte im November 2020 im Spital in Sitten Fahrt aufnehmen sollen, doch Élise schob den Termin hinaus: «Alle haben mich unterstützt, meine zukünftigen Chefs, das Universitätsspital Genf. Vom Alter her stimmt es. Jetzt oder nie ist der Zeitpunkt, um den Sport zu betreiben, den ich liebe. Ich weiss, dass mich nachher ein super-interessanter Job erwartet, das motiviert.»