Am Gotthard schreiben auch Frauen Geschichte
Der mit 57 km längste Eisenbahntunnel der Welt wird am 1. Juni 2016 eingeweiht. Das Meisterwerk schweizerischer Ingenieurkunst, das die Kantone Uri und Tessin verbindet, wurde von der AlpTransit Gotthard AG, einer Tochter der Schweizerischen Bundesbahnen (SBB), gebaut. Die AlpTransit beschäftigt rund 170 Personen, darunter 53 Frauen, eine Ausnahme im Baugewerbe.
Weibliche Spuren in einer Männerwelt
Sissi, Heidi, Gabi und Gabi II: So heissen die vier 450 m langen Riesenmaschinen, die den Gotthard-Eisenbahntunnel durch die Alpen bohrten. Sie sind nicht die einzigen weiblichen Geschöpfe auf dieser Jahrhundertbaustelle, die vor über 20 Jahren eröffnet wurde. Zahlreiche Frauen haben sich jahrelang für den reibungslosen Ablauf der Bauarbeiten eingesetzt, vor allem im Bereich Umwelt und Planung. Eine von ihnen ist die deutsche Ingenieurin Christine Ebenhög, die seit 2003 in Personico (Tessin) am Südportal des Gotthard-Basistunnels wohnt.
Christine Ebenhög, eine Frau mit Charakter
Die aus Erlangen (Bayern) stammende Christine Ebenhög war gerade 32 geworden, als sie mit ihrem Mann ins Tessin zog. Die viel beschäftigte Mutter von drei Kindern hatte ein Ingenieurdiplom der Universität Darmstadt in der Tasche. Sie war sehr motiviert und hatte keine Angst vor der Männerwelt am Gotthard. «Am Anfang musste ich meine Ellbogen einsetzen, um mich als Frau durchzusetzen. Die grösste Herausforderung war jedoch die Organisation, zumal wir ein viertes Kind bekamen. Da mein Mann aber in derselben Ingenieurgemeinschaft arbeitet, schafften wir es, unsere Arbeitspläne so abzustimmen, dass immer jemand bei den Kindern bleiben konnte.»
Tägliches Engagement
Familien- und Berufsleben unter einen Hut zu bringen, ist nicht einfach, schon gar nicht auf einer Riesenbaustelle mit grossen Maschinen. Christine Ebenhögs Aufgabe: Mithelfen bei der Aufsicht über die Realisierung des gigantischen Tunnelröhrensystems! Rund 152 km Schächte und Stollen wurden in das Gestein gebohrt. Die Aufsicht musste jeden Tag ausgeübt werden. «Ich war die meiste Zeit im Büro», sagt Christine Ebenhög, «einmal pro Woche fuhr ich in den Tunnel. Ich arbeitete oft am Wochenende und am Abend zu Hause. Es war anstrengend, aber spannend! Besonders gefallen hat mir die Suche nach Kompromissen im Ingenieursteam mit Experten aus verschiedenen Bereichen wie Sicherheit, Lüftungssysteme oder auch mit den Messingenieuren, wobei es immer die Projektziele im Auge zu behalten galt.»
Frauen für den Kontakt mit den Anwohnern
Die häufig Teilzeit arbeitenden Kolleginnen von Christine Ebenhög waren vor allem im Umwelt- und Planungsbereich tätig. Eine heikle Mission, da die Umwelt ein wichtiges Thema für die AlpTransit ist. «Meine Kolleginnen pflegten vor allem die Kontakte zur lokalen Bevölkerung, damit das Projekt verstanden und akzeptiert wurde. Ingenieurinnen haben bei solchen Aufgaben das bessere Händchen als ihre männlichen Kollegen. Die Arbeitsbedingungen auf der Baustelle waren jedoch schwierig für Frauen. Aber alle, mit denen ich zu tun hatte, haben es mit Bravour geschafft, Berufs- und Familienleben unter einen Hut zu bringen.»
Ende eines Abenteuers?
Der Tunnel wird im Juni 2016 offiziell eingeweiht und soll im Dezember 2016 in Betrieb genommen werden. Diese Eröffnung ist ein weiterer Erfolg in der langen Geschichte der Gotthard-Eisenbahntunnel, die 1882 mit der Einweihung der ersten doppelgleisigen Linie mit einer Länge von 15 km begann. Ist das Abenteuer auch für Christine Ebenhög zu Ende? «Ich bin noch für einige verbleibende Arbeiten punktuell für die Ingenieurgemeinschaft tätig. Aber ich denke bereits an den Bau der zweiten Röhre des Gotthard-Strassentunnels, dem das Schweizer Volk am 28. Februar 2016 zugestimmt hat. Ich bin stolz, Teil des Teams zu sein, das dieses Bauwerk realisieren wird. Einmal Tunnelluft, immer Tunnelluft!»