Die Genfer Bains des Pâquis: ein Flecken Freiheit
Im Genfer Hafen liegt seit 1932 ein merkwürdiges Stahlbetonschiff, das seinen Passagieren unabhängig von ihrer Herkunft oder sozialen Zugehörigkeit Entspannung und Geselligkeit bietet, ohne je den Anker zu lichten. An 365 Tagen im Jahr strömen sie zu Tausenden aus ganz Genf hierher, um zu schwimmen, zu essen oder einfach nur ein bisschen zu flanieren an diesem gut gehüteten Flecken Freiheit.
Ob Sie dem städtischen Grau entfliehen, neue Energie tanken, mit Kollegen plaudern, Freundinnen treffen oder Leute kennenlernen wollen, die Bains des Pâquis sind der richtige Ort dafür, denn hier wird nicht nur gebadet. «Wie wär’s mit einem Fondue in der Badi?» Diese Frage fällt in Genf früher oder später immer. Auch Nicht-Käsefreaks gehen in die Bains des Pâquis, es locken die Atmosphäre, der wundervolle Blick auf Jet d’eau und Mont Blanc, das Sonnenspiel im Wasser, aber auch das gute Essen zu sehr korrekten Preisen.
Im Gegensatz zu den meisten anderen Gastrobetrieben Genfs gibt es hier praktisch keine Inflation. Ein Kaffee kostet hier nur 2.50 Franken. Der Tagesteller wird mit frischen Zutaten vor Ort zubereitet und ist erstaunlich einfallsreich für eine einfache Strandbar (auf dem Mittagsmenü vom 21. Oktober standen zum Beispiel Paccheri mit Parmesan- und Kürbiscremesauce und Spaghetti mit Muscheln aus der Bucht des Mont-Saint-Michel). Kostenpunkt: 14 Franken bzw. gar nur 10 Franken für Pensionierte, Arbeitslose und Menschen mit Behinderungen. Für die günstigen Preise sorgt der Verein «Association d’usagers des Bains des Pâquis» (AUBP), der auch für den reibungslosen Betrieb des Schwimmbads zuständig ist.
Ein Flecken Freiheit, allen Hindernissen zum Trotz
Der Verein wurde 1987 von engagierten Bürgerinnen und Bürgern gegründet, als die Stadt das Bad «modernisieren», das heisst abreissen und durch einen Neubau ersetzen wollte.
Die Quartierbevölkerung ging auf die Barrikaden, und rasch schlossen sich Intellektuelle, Kunstschaffende und Persönlichkeiten aus der ganzen Stadt an. «Das Projekt sah Hotels und ein anderes Zielpublikum vor», erinnert sich Armand Brulhart, der dem Verein seit seinen Anfängen angehört und überdies das «lebendige Gedächtnis» der Badeanstalt ist. «Wir haben gemerkt, dass sich selbst die reicheren Quartiere mit dem Schwimmbad verbunden fühlen, weil die meisten Kinder hier schwimmen lernten und alle Klassen des Kantons zum Baden hierher kamen.» Der Verein legte ein Gegenprojekt vor, das – direkte Demokratie sei Dank – im September 1988 von der Stimmbevölkerung angenommen wurde. Die Stadtbehörden mussten sich geschlagen geben, und das Schwimmbad wurde renoviert. Die nüchterne Architektur im Bauhausstil blieb erhalten.
Dieser friedliche Widerstand ist Ausdruck der zutiefst demokratischen, wenn nicht gar libertären DNA der Bains des Pâquis. Ihre Spuren finden sich auch heute noch, von den Gästen oft unbemerkt, etwa auf den Flaschenetiketten der gleichnamigen Rot-, Weiss- und Rosé-Weine. Sie zeigen eine Krake, die einen öffentlichen, für alle zugänglichen Ort mit ihren Tentakeln einzunehmen versucht.
Die Bains des Pâquis wurden in den 1990er-Jahren nicht nur renoviert, sondern erhielten auch ein neues Konzept. Seither ist das Bad das ganze Jahr geöffnet anstatt nur von Mitte Mai bis Mitte September und hat sich zu einem wichtigen Begegnungs- und Veranstaltungsort gewandelt. Neben den zahlreichen Aktivitäten zu Wasser und zu Land, die Alt und Jung seit mehr als einem Jahrhundert erfreuen, gibt es nun auch Gedichtlesungen, philosophische Diskussionen, Konzerte und Ausstellungen.
Unser Anliegen war es, das Schwimmbad für die breite Bevölkerung zu bewahren, es kulturell neu zu beleben und dieses Patchwork von Kulturen, Religionen und Ideen zu schaffen.
erklärt Philippe Constantin, der sich an vorderster Front für den Verein engagierte, bevor er zu dessen Koordinator ernannt wurde, wie der Präsident heute heisst. «Es ist gerade das kostenlose Kulturangebot, das den Erfolg des Schwimmbads ausmacht. Alle sind willkommen. Hier wird nicht nur gefeiert, getrunken und gebadet, sondern viel mehr als das.»
Vielfältig, multikulturell und tolerant: ein Abbild der Gesellschaft
In diesem Schwimmbad taucht man ein in eine vielfältige Welt, wo ethnische, soziale und religiöse Zugehörigkeiten keine Rolle spielen. Ein bisschen wie im Militärdienst: Gärtner, Müllmann und Bäcker treffen auf Anwälte, internationale Bedienstete und Bankfachleute, nur dass es hier keine Hierarchien und keine Uniformen gibt. Badehosen und Flip-Flops sind genauso okay wie dreiteiliger Anzug und Veston. Sogar Adams- und Evakostüm sind gestattet, sofern man den winterlichen Hammam besucht oder eine Runde um das Schiff macht, ohne das Wasser zu verlassen (ja, das ist möglich – fragen Sie die Schwimmerinnen und Schwimmer).
«Wenn alle im Badeanzug oder nackt unterwegs sind, verwischen sich die sozialen Unterschiede», sagt Philippe Constantin. «Das widerspiegelt sich auch im Konzept der grossen Tische in der Buvette, wo die Leute miteinander ins Gespräch kommen. Die Badi ist ein Abbild der Gesellschaft.»
In einer Stadt, die so viele internationale Organisationen aufweist, darunter das UNO-Hochkommissariat für Menschenrechte und das Internationale Komitee vom Roten Kreuz, ist es normal, dass viele Sprachen gesprochen werden. Das sowohl auf der Terrasse der Buvette als auch hinter der Theke, wo Dutzende von Nationalitäten und Kulturen und ebenso viele Anschauungen auf engstem Raum zusammenkommen.
«Hallo, wie geht’s?», ruft das Servicepersonal auf Französisch oder Englisch, Portugiesisch, Spanisch, Kurdisch, Arabisch und Indonesisch, immer ein Lächeln auf den Lippen trotz der Konzentration, die es braucht, um drei Tagesteller an den richtigen Tisch zu bringen, ohne mit der Kollegin, die gerade ein neues Fass anzapft, oder dem Kollegen zusammenzustossen, der den Kühlraum auffüllt. «Achtung heiss!» ist der häufigste Satz, ausgesprochen sowohl als Warnung als auch zum Selbstschutz.
«Es ist wie ein grosser Schmelztiegel», findet Laurent Grégoire, der seit 2014 als Koch im Schwimmbad arbeitet. «Es ist beeindruckend, mit so vielen Nationalitäten und Religionen zusammenzuarbeiten und zu sehen, dass wir gemeinsam trotzdem etwas zustande bringen. Das ist das Beste daran. Es ist ziemlich kompliziert, bis sich alle an die Regeln des allgemeinen Respekts halten, aber nach einer gewissen Zeit klappt es und die Leute haben sich an den Stil und die Arbeitsweise hier gewöhnt.»
Neue Welle des Widerstands
Vor Kurzem wurde die Gemeinschaft der Bains des Pâquis von einer neuen, diesmal globalen Welle erschüttert, die auch Genf nicht verschonte: der Covid-19-Pandemie. Auch dieses Mal wurden die Widerstandskräfte mobilisiert, um das Schiff über Wasser zu halten und mit Lebensfreude, Gemeinschaftssinn und Gelächter gegen die unsichtbare Feinde Trübsinn, Angst und Isolation anzutreten.
In Erwartung besserer Zeiten scheint das Genfer Motto Post tenebras lux (nach der Dunkelheit das Licht) Unterstützung vom mehr wasserbezogenen Motto von Paris zu erhalten: Fluctuat nec mergitur (das Schiff schwankt, aber geht nicht unter).
Während der langen Monate, in denen das Schwimmbad geschlossen war, schlief Philippe Constantin ganz alleine dort. «Wir wollten einen Kapitän an Bord haben, der das Schiff steuert.» Bereits im März 2020 gab es eine erste Aktion «gegen das Virus und alles, was passierte»: eine Live-Gedichtlesung auf der Facebookseite desr Bains des Pâquis. «Wir mussten Widerstand leisten, um zu existieren», sagt er. Und so blieb das Schiff vom Lockdown bis zur Wiedereröffnung fest vertäut, trotz der auch heute immer wieder auftretenden Unsicherheiten. «Aus einem Schwimmbad im Widerstand wurde ein Schwimmbad der Widerstandsfähigkeit.»
Dass es sich um einen gewaltfreien Widerstand handelt, macht die 2020 während des Lockdowns entworfene Flagge deutlich. Rot und weiss wie die Landesfahne, mit einem Herz anstelle des Schweizerkreuzes, flattert sie über dem Bad im Wind. Und hoch oben am 10-Meter-Sprungturm steht ein einziges Wort als stille Herausforderung: «Poesie».
Schwimmen oder Tauchen: Sie haben die Wahl
Ob Stammgast, Gelegenheitsbesucher oder Teammitglied des Schwimmbads, für alle gilt das Gleiche wie für die allgegenwärtigen Schwimmerinnen und Schwimmer: Man kann an der Oberfläche herumtollen und die Landschaft bewundern oder abtauchen und die verborgene Welt darunter entdecken. Kurz, man kann das Bad wann auch immer, mit wem auch immer und wie auch immer nutzen, ob man nun weiss, was hinter den Kulissen abgeht oder nicht. Es ist alles da, für alle. Vielleicht ist das die Besonderheit dieses Schwimmbads.
Ein besonderer Dank geht an Armand Brulhart und Eloi Contesse, Centre d’iconographie, Bibliothèque de Genève, für die Illustrationen.
Coverbild : © JF Vercasson
Teaser und Porträtbilder : © Miguel Quintana