Ein magischer Winterbrauch: zweimal Silvester in Urnäsch
Das Dorf Urnäsch in Appenzell Ausserrhoden feiert Silvester mit seinen berühmten Silvesterchläusen gleich zweimal. Ein lebendiges und dynamisches Brauchtum.
Wie am 31. Dezember werden die Menschen auch am 13. Januar schon in aller Herrgottsfrühe dicht gedrängt auf dem Dorfplatz von Urnäsch stehen. Um fünf Uhr früh erlöschen alle Lichter im Dorfzentrum. In völliger Dunkelheit und Stille warten Gross und Klein auf die Silvesterchläuse, die Männer in ihren speziellen Kostümen, die ihre Ankunft schon von weitem mit Schellen und Glocken ankündigen. Der spektakuläre zweite Silvester findet nur eineinhalb Zugstunden von Zürich entfernt statt.
Das kleine Dorf mit seinen rund 2000 Einwohnerinnen und Einwohnern feiert Silvester nämlich zweimal. Das erste Mal feiert man wie überall nach dem gregorianischen Kalender am 31. Dezember, das zweite Mal am 13. Januar nach dem julianischen Kalender, der in Urnäsch noch bis im 19. Jahrhundert galt.
Schellen und Glocken
Vom frühen Morgen an sind die Silvesterchläuse unterwegs. Sie gehen von Hof zu Hof, von Haus zu Haus und wünschen allen ein gutes neues Jahr. Die Freude ist gross, wenn der erste Schuppel (Gruppe) auf der Strasse auftaucht. Die Regeln sind genau vorgegeben: Jede Gruppe besteht aus sechs Personen, voran der «Vorrolli», in der Mitte die «Schelli» und am Schluss der «Noerolli» (Nachrolli). Der «Vorrolli» und der «Noerolli» tragen ein hosenträgerartiges, gepolstertes Ledergestell, an dem dreizehn grosse, geschlitzte Schellen befestigt sind. Die vier «Schelli» tragen Kuhschellen.
Kunstvoll verzierte Kopfbedeckungen
Man unterscheidet drei Arten von Schuppel. Die «Wüeschte» tragen struppige, mit Laub oder Stroh besteckte Kostüme und Dämonenlarven. Die «Schö-Wüeschte» (Wald- oder Naturchläuse) haben eine Kostümierung aus Laub, Tannzapfen, Tannenreisig, Moos und sogar Schneckenhäusern. An diesen hätte J.R.R. Tolkien, der Erschaffer der Ents, dieser baumartigen Wesen und Waldgeister von Mittelerde, seine helle Freude gehabt. Dann gibt es noch die «Schöne». Sie sind wahrscheinlich die Lieblingsfiguren aller, die das Silvesterchlausen zum ersten Mal erleben. Die einen sind als Frauen verkleidete Männer, die «Wiiber». Sie tragen eine Maske, die aussieht wie das Gesicht einer Porzellanpuppe. Die andern, die «Mannevölcher», tragen eine bärtige Maske. Ihre Kopfbedeckungen sind kunstvoll verziert mit holzgeschnitzten Figuren und zeigen Szenen aus dem bäuerlichen Leben, Hügel, Hirten und Kühe, aber auch moderne Miniaturwelten wie Flughäfen oder Wintersportorte. Eine Augenweide für Gross und Klein. Die mit Glasperlen geschmückten Hauben leuchten dank LED in der Nacht; Moderne und Tradition finden so zusammen. Die Kostüme und Hauben werden von den Männern in Hunderten von Freizeitstunden angefertigt. Die aufwändigen Kopfbedeckungen kommen zwei bis drei Jahre lang zum Einsatz.
Vor jedem Haus schütteln die Mitglieder der Schuppel ihre Schellen, wiegen sich und hüpfen im Takt. Danach stimmen sie ein Zäuerli an, einen in der Region verbreiteten mehrstimmigen Jodel. Von den Tausenden von Gesängen, die es gibt, werden heute noch etwa dreissig gesungen. Als Dank erhalten die Chläuse Tee oder Glühwein, den sie wegen der Larven nur mit einem Strohhalm trinken können, und eine Geldgabe als Ermunterung.
Vom Vater zum Sohn weitergegebene Tradition
Die Kostüme wiegen zwischen zwanzig und dreissig Kilo, und der Tag ist lang. Der Brauch ist eng verbunden mit den Menschen der Region. Die Gruppen suchen sich die Häuser und Höfe aus, bei denen sie vorbeigehen. Die Alten, die dort wohnen, haben in ihrer Jugend oft selbst als Chläuse mitgemacht. Da kommen viele Gefühle hoch. «Das Schönste jedes Jahr ist es, die Freude der Hausbewohner über den Besuch, die dabei vergossenen Tränen mitzuerleben», sagt Walter Frick. Er gesteht, dass auch ihm unter seiner Maske die Tränen kommen. Das Gewicht, die Anstrengung, die Gefühle, die vielen Einladungen: Die Chläuse kommen, je länger der Tag dauert, in einen richtigen Trancezustand.
Walter Frick ist seit Jahren ein Schöner der «Waisenhausschuppel», die er vor Jahren mit seinen Brüdern gründete. Er ist auf einem Bauernhof in der Nähe aufgewachsen. Die Gebrüder haben die Zäuerli beim Melken gelernt. Mit vier Jahren trug er sein erstes Kostüm, trotzdem zitterte er vor Angst bei der Begegnung mit den Erwachsenen. Aus dieser Erfahrung heraus hat er das Kinderbuch Wälti wird Silvesterchlaus verfasst, das kürzlich herausgekommen ist. Die Illustrationen stammen von seiner Frau. Walter Frick ist mit Leib und Seele beim Silversterchlausen dabei und ganz in seinem Element, wenn er über diesen Volksbrauch spricht. Nebst seinem Engagement für Musik, Jodeln und Kostüme arbeitet er im Appenzeller Brauchtumsmuseum Urnäsch, wo alte Kostüme ausgestellt sind. Sie sind nicht so aufwendig gestaltet wie die heutigen, lassen aber die Erfindungsgabe und die Kreativität derer erkennen, die sie damals getragen haben.
Das Silvesterchlausen wurde 1663 erstmals schriftlich erwähnt. Damals versuchte die kirchliche Obrigkeit, dem als abergläubische Unart taxierten Brauch den Garaus zu machen. Der Ursprung der Chläuse liegt im Dunkeln. Einige sehen in dieser Tradition eine Variation des Nikolausbrauchs, andere ein Mittel zur Abschreckung böser Geister. Nach dem zweiten Weltkrieg verlor der Brauch seine Bedeutung. In den letzten Jahrzehnten erlebte er jedoch wieder eine Renaissance und ist heute einer der lebendigsten Bräuche der Schweiz. Deshalb ist die Anziehungskraft auf Touristen, Schweizer wie Ausländer, gross. Von den Einheimischen mehr oder weniger akzeptiert, gehören die Schaulustigen nun einfach dazu. Die Besucherinnen und Besucher haben die Gelegenheit, am Abend in den Gaststätten den Gesängen zu lauschen. Heute gibt es in Urnäsch rund dreissig Schuppel, etwa ein halbes Dutzend davon besteht aus jungen Burschen.