Kathedrale von Lausanne

Eine Lausanner Tradition wird weiblich

Seit 1405 gibt es in Lausanne Turmwächter, die nachts die vollen Stunden vom Turm der Kathedrale ausrufen – an 365 Tagen im Jahr. Seit August 2021 übt nun auch eine Frau dieses traditionelle Männeramt aus.

Wer zu später Stunde im Lausanner Stadtzentrum unterwegs ist, hört sicher schon den folgenden Ruf gehört: «C’est le guet, il a sonné…», gefolgt von der Uhrzeit – dix, onze, douze, une oder deux (hier ist der Türmer, es hat zehn, elf, zwölf, eins bzw. zwei geschlagen). Der Turmwächter (französisch «guet») der Lausanner Kathedrale ist eine jahrhundertealte Institution. «Seine Aufgabe war es ursprünglich, bei einem Feuer Alarm zu schlagen. Die Häuser waren früher aus Holz und wurden mit Holz beheizt. Daher gab es immer wieder Brände. Das Amt des Turmwächters wurde 1405 nach einem Grossbrand geschaffen, aber wahrscheinlich gab es schon im Jahr 1235 solche Wächter», erklärt Gemeinderat David Payot, der die Direktion für Kinder, Jugendliche und Quartiere der Stadt Lausanne leitet. «Wie historische Dokumente zeigen, hatten die Kathedrale und die Kirche St. François sowohl auf dem Turm als auch auf dem Boden einen Nachtwächter. Diese schlugen Alarm, wenn Feuer ausbrach, und riefen die vollen Stunden aus. Auf diese Weise konnte man sich gleichzeitig vergewissern, dass kein Wächter eingeschlafen war.»

© Noura Gauper/Ville de Lausanne

Aus der Zeit gefallen

In zahlreichen Städten Europas waren während mehrerer Jahrhunderte Nachtwächter im Einsatz. In Lausanne wurde das Amt 1880 von einer normalen Tätigkeit zu einer Tradition. «Als die Turmwächter abgeschafft werden sollten, wehrte sich insbesondere die Bevölkerung, die sich mit diesen Funktionsträgern ihres Quartiers sehr verbunden fühlte», sagt David Payot. Die Nachtwächter wurden früher vom Gemeinderat eingestellt und sind auch heute noch Gemeindeangestellte.

In Lausanne wachen sieben Personen nachts über die Stadt, darunter Renato Häusler, der schon seit 20 Jahren «Guet» ist. «Es war Schicksal, dass ich diese Stelle bekommen habe. Als ich 1987 studierte, wohnte ein Freund von mir hier im Quartier. Er war Ersatzwächter. Von ihm erfuhr ich, dass eine Stelle frei war, und so kam ich ins Team», erzählt Renato Häusler. Der Lausanner, der auch in der Eventbranche tätig ist, steigt die 153 Stufen des Glockenturms seit über 34 Jahren hoch. «Es ist ein Privileg und eine Ehre, diese Tradition weiterführen zu dürfen. Ich bin gerne allein im Turm und geniesse es, dass meine Tätigkeit so unzeitgemäss ist. Man fühlt sich wie aus der Zeit gefallen, macht dasselbe, was andere schon vor Jahrhunderten getan haben, während sich die Gesellschaft in rasendem Tempo weiterentwickelt.» 

Renato Häusler - « Ville de Lausanne – La Télé »
Renato Häusler - « Ville de Lausanne – La Télé »

 

Zwischen den Zeitansagen liest Renato Häusler über die beiden Weltkriege oder befasst sich mit Astronomie. Die Stunden werden an 365 Tagen im Jahr und bei jedem Wetter in alle vier Himmelsrichtungen ausgerufen. «Meine Lieblingszeit ist der April, wenn die Mauersegler aus Afrika zurückkehren und im Turm nisten», erzählt Häusler. Er ist so gerne dort oben, dass er sich manchmal nach seiner Schicht in der Türmerkammer aufs Ohr legt. 

Erste Türmerin der Geschichte

Wenn Renato Häusler in den Ferien, krank oder sonst abwesend ist, springen die Ersatzwächter ein. Seit August 2021 gibt es auch eine «Guette»: Cassandre Berdoz ist die erste Frau in diesem traditionsreichen Amt. 

Es gibt keine Belege, dass das Amt früher auch Frauen offenstand.

weiss Elsa Kurz, stellvertretende Generalsekretärin der Direktion für Kinder, Jugendliche und Quartiere. «Als 2021 eine Stelle als Ersatzwächter frei wurde, beschlossen wir, Bewerbungen von Frauen den Vorzug zu geben.» Rund hundert Personen bewarben sich, davon 80 Prozent Frauen. 

Das Rennen machte die gebürtige Lausannerin Cassandre Berdoz. «Ich habe mich immer schon für meine Stadt, ihre Geschichte und ihr Kulturerbe begeistert und wollte schon lange Turmwächterin werden. 2007 sang ich mit dem Chor meiner Schule bei der Wiedereröffnung des Südportals der Kathedrale. Damals sah ich die Türmerkammer zum ersten Mal und wusste sofort: Ich will ‹Guette› werden.»

Die 28-Jährige bewarb sich mehrmals um die begehrte Stelle. Mit der Zeit setzte sie sich immer hartnäckiger für ihr Ziel ein. «Am Frauenstreik vom 14. Juni 2019 sah ich erstmals Frauen auf dem Turm, die die Stunden ausriefen. Daraufhin schickte ich der Stadtverwaltung eine Spontanbewerbung, doch die erhoffte Antwort blieb aus. Ich bewarb mich immer wieder, bis im Juni 2021 schliesslich eine Stelle ausgeschrieben wurde.» Und so wurde Cassandre Berdoz die erste Turmwächterin der Stadtgeschichte.

Am 19. August 2021 verbrachte sie ihre erste Nacht auf dem Turm der Kathedrale. «Das war ein emotionaler Moment, an den ich mich noch lange erinnern werde! Meine Familie und meine Freunde verbrachten die Nacht unten auf dem Platz. Sie blieben bis zum Schluss, wie ein Fanclub. Ich hatte Lampenfieber und wollte, dass sie stolz auf mich sind! Dass nun auch Frauen dieses traditionelle Männeramt ausüben dürfen, ist eine grosse Sache. Ich fühle mich sehr geehrt und versuche, die Frauen stolz zu machen. Ich setze mich auf meine Art für die Gleichstellung ein und rufe für alle Frauen, die dies nicht tun können», sagt die junge Frau, die hauptberuflich in einer Kommunikationsagentur arbeitet. «Ich finde es gut, dass man Traditionen bewahrt und weiterentwickelt. Es ist ziemlich magisch auf dem Turm; es ist still, obwohl man sich im Stadtzentrum befindet. Ich verspüre eine grosse Gelassenheit dort oben. Man hat Zeit für sich selbst; Zeit, sich zu langweilen oder zu lesen. Man kann abschalten und muss nicht ständig aktiv sein.» Für Cassandre Berdoz wurde ein Traum wahr, und gleichzeitig wird nun erstmals in Europa ein männlich geprägtes Traditionsamt von einer Frau ausgeübt.