Michelle Gisin St. Anton

Michelle Gisin, Überfliegerin einer begabten Familie

Die 27-jährige Engelbergerin Michelle Gisin ist seit diesem Winter der neue Star des Schweizer Skisports. Sie und ihre ältere Schwester Dominique holten beide einen Olympiasieg. Ihr Bruder Marc war ebenfalls Skirennfahrer und glänzte vor einigen Jahren auf der legendären Streif in Kitzbühel. Die Gisins: eine begabte Ski-Familie.

Michelle Gisin ist seit acht Jahren im Weltcup unterwegs und mittlerweile ein sicherer Wert des Schweizer Skisports.  Mit 28 Jahren mauserte sich das Talent aus Engelberg im Kanton Obwalden nun zum neuen Star der Szene: Am 29. Dezember 2020 holte sie im österreichischen Semmering als erste Schweizerin seit Marlies Oester 2002 eine Goldmedaille im Slalom. 

Michelle Gisin Winter Olympic Games at PyeongChang

Mitte Januar schrieb sie mit einem zweiten und einem dritten Platz im Riesenslalom in Kranjska Gora (Slowenien) endgültig Geschichte: Erstmals seit Vreni Schneider schaffte es wieder eine Schweizerin in allen fünf Disziplinen aufs Podest.  

Ich lag lange zwischen dem 15. und dem 20. Platz. Das zeigt, dass man immer daran glauben muss. Das gibt auch allen anderen Skifahrerinnen und Skifahrern Hoffnung! 

Trotz Euphorie vergass sie nicht, ihrer Teamkollegin Wendy Holdener zu danken, die im Slalom 13-mal Zweite wurde, aber nie eine Goldmedaille abräumte. «Wendy hat mich immer gepusht; ohne sie hätte ich es nicht auf dieses Niveau geschafft.» Michelle Gisin ist nicht nur sympathisch, sondern auch intelligent und spricht fünf Sprachen. Damit ist sie die ideale Botschafterin für den Skisport. 

Wenige Tage nach ihrem Triumph erreichen wir Michelle telefonisch. Kaum zurück aus Italien ist sie auf dem Weg nach Crans-Montana, wo Ende Januar die nächsten Rennen stattfinden. Nach all der Aufregung verbrachte sie etwas Zeit mit ihrem Freund, dem Riesenslalomfahrer Luca de Aliprandini, im gemeinsamen Haus am Gardasee. «Ich war kaum 24 Stunden mit Luca», lacht Michelle, «aber es hat mir gut getan, ich konnte meine Batterien wieder aufladen.» Michelle spricht immer sehr liebevoll von Luca. Als sie kürzlich von einem Fernsehsender nach ihrem Lieblingsessen gefragt wurde, sagte sie: «Risotto, vor allem wenn Luca ihn kocht.»


Welches war der beste Moment in dieser intensiven Zeit? Die Antwort fällt ihr schwer.

In Semmering habe ich im Slalom gewonnen. In dieser Disziplin stieg ich vor acht Jahren in den Weltcup ein. Für mich ist damit ein Traum wahr geworden, was ich aber noch gar nicht richtig realisiert habe. Der Riesenslalom war immer meine Lieblingsdisziplin, meine grosse Liebe. Als Kind war die Riesenslalom-Weltmeisterin Sonja Nef mein Idol. Deshalb waren diese beiden ersten Podestplätze für mich besonders wichtig.

 

Michelle ist das jüngste Kind einer begabten Ski-Familie. Vor ihren jüngsten Erfolgen gewann sie 2018 Gold in der Alpinen Kombination an den Olympischen Spielen im südkoreanischen Pyeongchang. Vier Jahre davor war ihre acht Jahre ältere Schwester Dominique Abfahrts-Olympiasiegerin in Sotschi (Russland) geworden. Damit sind die Gisin-Schwestern neben den Französinnen Marielle und Christine Goitschel in den 1960er-Jahren die einzigen Schwestern in der Geschichte des Skisports, die beide Olympia-Gold holten. Ihr Bruder Marc war auf der legendären Streif in Kitzbühel zweimal unter den ersten fünf (2016 und 2018). Ende 2020 trat er vom Spitzensport zurück, da er sich von den Verletzungen, die er sich bei seinem schweren Sturz in Val Gardena 2018 zugezogen hatte, nie ganz erholt hatte. Zu seinem Rücktritt fand er berührende Worte: «Ich habe etwas in meinem Leben gefunden, das mir Leidenschaft gegeben hat. Ich wuchs damit und war schliesslich bereit, dafür zu sterben.» Für Michelle war Marc immer ein Vorbild, «die Stütze der Familie, der beste grosse Bruder der Welt.»

Michelle Gisin and family
Dominique, Michelle und Marc Gisin

 

Die Eltern Bea und Beat sind beide ausgebildete Sportlehrer und führen ein Sportgeschäft in Engelberg. Sie haben ihre Leidenschaft für den Skisport den Kindern weitergegeben. «Wenn mein Bruder und meine Schwester Rennen fuhren, weinte ich, weil ich nicht mitdurfte», erzählte Michelle kürzlich. «Niemand von uns stieg wegen des Ruhms in den Skisport ein. Wir fahren einfach gerne Ski.» Hugues Ansermoz, ehemaliger Cheftrainer des Schweizer Frauenteams, betont, wie wichtig die Eltern waren: «Sie waren bei den Rennen fast immer dabei, mischten sich aber nie ein.» Die Familie ist für Michelle sehr wichtig. Quirlig und voller Lebensfreude wie immer sagt sie uns auf dem Weg nach Crans-Montana: «Ich bin so froh, dass ich in eine Familie von leidenschaftlichen Skifahrern hineingeboren wurde. Wegen des Virus können meine Eltern diese Saison zwar nicht dabei sein, aber ich telefoniere jeden Tag mit ihnen. Sie haben uns immer unterstützt.  Ich verdanke ihnen einen sehr grossen Teil meines Erfolgs. Ohne sie hätte ich es nicht so weit gebracht. Auch meinem Bruder und meiner Schwester stehe ich sehr nahe. Für sie bin ich immer noch die kleine Schwester, das Nesthäkchen.»

Michelle and Dominique Gisin
Michelle und ihre Schwester Dominique

 

Dominique, die älteste, trat 2015 vom Skisport zurück. Mit 30 Jahren nahm sie ihr Studium wieder auf und machte einen Bachelor in Physik an der ETH Zürich. Die junge Frau ist vielseitig interessiert. Schon früh vom Flugvirus befallen, erwarb sie eine Pilotenlizenz. Zudem ist sie Delegierte des Stiftungsrats der Schweizer Sporthilfe. Besonders am Herzen liegt ihr das Engagement als Rotkreuz-Botschafterin. Die Reisen, die sie in dieser Funktion nach Togo, Bolivien und Nepal unternahm, haben einen tiefen Eindruck hinterlassen:

Solche Erlebnisse bringen einen zum Nachdenken. Man realisiert, wie privilegiert wir hier in der Schweiz sind. Das hilft mir auch in diesen schwierigen Zeiten, die Dinge zu relativieren.

 

Dank ihrem starken Willen konnte sich Dominique während ihrer Skikarriere trotz neun Knieoperationen immer wieder an die Spitze zurückkämpfen. Hugues Ansermoz, der sie mehrere Winter in seinem Team betreute, macht aus seiner Bewunderung keinen Hehl: «Nach einer Verletzung brauchen die Fahrerinnen und Fahrer oft lange, bis sie wieder ganz vorne mitfahren, weil sie Angst haben. Aber Dominique war sofort wieder da, unverändert. Das war beeindruckend.»


Zusammen mit ihrem Mentaltrainer hält die ehemalige Spitzenfahrerin regelmässig Vorträge zu diesem Thema und berichtet von ihren Erfahrungen. «Wir sind sehr gefragt bei Unternehmen, aber auch bei Dorffesten. Wir erhalten viele Fragen, das ist sehr interessant!» Aber wie hat sie die vielen Rückschläge überwunden? Welches ist ihr Geheimnis? «In erster Linie meine Leidenschaft. Dank ihr habe ich es jedes Mal wieder zurück an die Spitze geschafft.» Die beiden bescheidenen, offenen und sympathischen Schwestern sind drei Weltcup-Saisons lang zusammen gefahren. Dominique staunt über die jüngsten Erfolge ihrer kleinen Schwester. «Das ist ganz einfach fantastisch, aber sie hat auch hart dafür gearbeitet. Es braucht unheimlich viel Energie, um alle fünf Disziplinen zu fahren.» 

Und was unterscheidet sie von der Schwester? «Michelle war schon immer entspannter als ich, freier im Kopf. Sie nimmt das Leben, wie es kommt, und bleibt immer gelassen. Das ist ihre grosse Stärke.» Dasselbe sagt auch Hugues Ansermoz: «Michelle ist fröhlicher, extrovertierter, auch wenn sie äusserst fokussiert sein kann, wenn es sein muss. Dominique ist ernsthafter und mental unheimlich stark. Beide Schwestern sind sehr umgänglich und gesellig. Sie brauchen den Umgang mit anderen, damit es ihnen gut geht.» Niemand weiss besser als er, welche wichtige Rolle die ältere Schwester bei Michelles Karriere spielte: «Dominique hat Michelle immer beraten. Am Tag vor ihrem Sieg in Sotschi in der Kombination stürzte Michelle im Super-G. Dominique, damals Beraterin beim Fernsehen, sprach ihr gut zu und munterte sie wieder auf. Das Ergebnis kennen wir alle.»  

Michelle and Dominique Gisin

Die vielseitig interessierte Michelle entspricht so gar nicht dem Klischee einer auf ihre Ergebnisse fixierten Spitzensportlerin:

Ich liebe Bücher und lerne gerne Sprachen. Ich lebe nicht in einer Blase. Ich weiss, wie man Rechnungen bezahlt und stehe auf eigenen Beinen. Ich weiss aber auch, welches Glück ich habe, dass ich jeden Tag draussen Ski fahren kann.

 Als Botschafterin der Organisation «Protect Our Winters», die die Öffentlichkeit auf die Folgen des Klimawandels aufmerksam macht, freute sie sich, als das traditionelle Trainingslager in Südamerika letzten Sommer abgesagt wurde. «Ich weiss, dass Reisen zum Weltcup-Zirkus gehört, aber wir müssen trotzdem versuchen, unsere CO2-Emissionen zu senken. Ich fand dieses Lager schon eine Weile ziemlich unsinnig, deshalb war ich erleichtert, dass ich nicht gehen musste.» Sie bedauert zwar, dass die Rennen nun ohne Publikum stattfinden, bleibt aber wie immer positiv. «Jetzt wo Kinos und Konzertsäle geschlossen sind, ist der Sport die letzte Unterhaltung, die die Zuschauerinnen und Zuschauer sozusagen live erleben können. Wir bringen etwas frischen Wind. Das ist ein Privileg.» Nach dem Olympiasieg von 2018 schrieb die Westschweizer Zeitung Le Matin über sie: «Michelle Gisin liebt Menschen, wie sie Skifahren liebt.» Das stimmt auch heute noch.