Niels Ackermann: «Die Schweiz erlaubt mir, dieses Leben zu leben»
Niels Ackermann ist unbestritten der Schweizer Fotograf des Jahres. Begegnung mit einem Dreissigjährigen, der seine Karriere mit Umsicht und Leidenschaft verfolgt.
Letzten Nachrichten zufolge war Niels Ackermann auf Reportage für die «New York Times» im Val-de-Travers unterwegs. Den Auftrag konnte der Genfer gerade noch zwischen zwei Flügen einschieben: In letzter Zeit wurde seine Arbeit «L'Ange Blanc / White Angel» in acht Ausstellungen gezeigt, von Morges (VD) über das renommierte Fotojournalismus-Festival «Visa pour l'Image» in Perpignan – wo er den «Prix de la Ville de Perpignan Rémi Ochlik» erhielt – bis nach China. Mit dieser Reportage gewann er dieses Jahr bereits die Auszeichnungen «Swiss Press Photo» und «Swiss Photo Award». Zudem wurde sie von CNN und dem Fotojournalismus-Blog «Lens» der New York Times übernommen.
Ein «toller und unerwarteter Erfolg, weit mehr, als ich je zu träumen gewagt hätte», meint der gerade mal 30-jährige Genfer dazu. Bei aller Freude über die Anerkennung, die ihm 2016 zuteil wurde, hält er eine Auszeichnung besonders hoch, die einen Wendepunkt in seiner Karriere bedeutete: den wenig bekannten «Globetrotter World Photo»-Preis, den er Ende 2013 erhielt. Der Förderpreis des Berner Reisebüros beinhaltet unter anderem ein Coaching durch den Schweizer Fotografen Manuel Bauer, der für seine intimen Porträts des Dalai Lama bekannt ist. «Manuel hat mir Mut gemacht, mehr zu wagen, selbständiger zu werden und mehr Zeit für meine langfristigen Projekte aufzuwenden», freut sich Niels Ackermann.
Ein Vorwand, um in die Welt hinauszugehen
Der Erfolg ist natürlich willkommen, aber für den Genfer kein Grund, sich auszuruhen. Preisgelder, sogenannte ausserordentliche Einnahmen, legt er zur Seite. Seinen Lebensunterhalt bestreitet er weitgehend mit Auftragsarbeiten, zum Beispiel für die Stadt Genf oder private Unternehmen. «Seit etlichen Jahren versuche ich schon gar nicht mehr, dem Medienpulk zu folgen.»
Der G-8-Gipfel von Evian, der Genf im Jahr 2003 erschütterte, war das erste Ereignis, bei dem der selbsternannte Geek und Studierende der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften fotografierte. «Das hat mich fasziniert. Seither ist die Fotografie teilweise ein Vorwand, um hinzugehen und zu schauen, was läuft.» Anfänglich ist es vor allem die Malerei, die ihn inspiriert, aber auch die Namen der Fotografen auf der Titelseite der Zeitschrift «L'Hebdo» – Jean Revillard, Nicolas Righetti und Fred Merz – beflügeln ihn. Er schliesst sich ihnen in der Agentur Rezo an. Seither «hat sich das wirtschaftliche Umfeld radikal verändert», und 2015 gründet er zusammen mit anderen Ehemaligen von Rezo ein neues Kollektiv – Lundi13. Zu den Fotografen, die er heute bewundert, gehören der Franzose Guillaume Herbaut und die Ukrainer Boris Mikhailov und Sergey Lebedinsky.
Die Ukraine, ein alter Traum
Vor knapp drei Jahren überkam ihn und seine ukrainische Freundin der Wunsch, sich anderweitig zu orientieren. Hin- und hergerissen zwischen der Deutschschweiz und der Ukraine, trafen sie schliesslich einen Entscheid. Er hatte einen Riecher, könnte man sagen, brachen doch Anfang 2014 in Kiew und auf dem Maidan-Platz die Unruhen aus, die zur Absetzung des Präsidenten führten. Er lächelt. «Ich sass während eines Grossteils der Revolution in der Schweiz fest. Und dann tummelten sich da Fotografen aus aller Welt; das ist wirklich nicht mein Ding. Als ich mit der Arbeit über Slavutych begann, dachte ich nicht, dass das viele Leute interessieren würde. Ausserdem sind meine Bilder alles andere als aufrüttelnd», schiebt er nach. «Das ist meine Schweizer Seite», lächelt er. «Die Welt ist nicht schwarzweiss. Ich kann heute noch nicht sagen, dass ich gegen Atomkraft bin.»
Die Ukraine ist das Land, in dem er jetzt die meiste Zeit lebt. Er kehrt aber regelmässig für Aufträge in die Schweiz zurück. Vorderhand will er die Entwicklung von Slavutych und seiner Bewohner weiter verfolgen. Und er arbeitet bereits an einem neuen Projekt: «After Lenin», einer Dokumentation über das Schicksal Tausender von Lenin-Statuen, die demontiert, gestohlen oder eingeschmolzen wurden.
Niels Ackermann hat aber seiner Heimat keineswegs den Rücken gekehrt. «Hier passiert genau so viel Spannendes wie anderswo. Ich bin weggegangen, um Neuland zu entdecken, und weil man keine Überraschung mehr empfindet, wenn man einen Ort zu gut kennt. Aber wenn ich jetzt in die Schweiz zurückkehre, kommt mir Genf immer weniger bekannt vor.» Er spielt auch mit dem Gedanken, etwas über das internationale Genf zu machen. Mehr will er dazu nicht sagen.
L'Ange Blanc/Die Kinder von Tschernobyl sind gross geworden
«L'Ange Blanc/Die Kinder von Tschernobyl sind gross geworden», folgt Yulia, einer Jugendlichen aus Slavutych, auf dem Weg des Erwachsenwerdens. Die Stadt Slavutych wurde nach der Katastrophe im Kernkraftwerk Tschernobyl 1986 in dreissig Kilometer Entfernung aus dem Boden gestampft. Die farben- und lebensfrohen Fotografien stehen in deutlichem Gegensatz zu dem pessimistischen Bild, das seit Jahren über die Gegend vermittelt wird. Ein Buch mit einem Text des Schweizer Journalisten Gaetan Vannay ist im Verlag «Les Editions Noir sur Blanc» erschienen.
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