Schweizer Start-ups erfinden die Plastikindustrie neu
Dank technologischer Fortschritte gibt es immer mehr Möglichkeiten, die Umweltbelastung durch Plastikabfall zu reduzieren. In der Schweiz engagieren sich in diesem Bereich verschiedene junge Unternehmen, die ökologisch sinnvolle und wirtschaftlich rentable Lösungen entwickeln wollen.
Findige Unternehmerinnen und Unternehmen haben gemerkt, dass in der Plastikindustrie ein riesiges Potenzial für Verbesserungen steckt: einen Erdölersatz herstellen, mehr recyclingfähige Kunststoffe entwickeln, die Effizienz der Branche steigern oder neue Absatzmärkte für Recyclingmaterial identifizieren.
Im Schatten von Medtech-, Biotech- und Fintech-Firmen entstanden so im Verlauf der letzten Jahre etliche Schweizer Start-ups, die entschlossen sind, einen unter Druck stehenden Wirtschaftszweig zu revolutionieren, indem sie dessen Ökobilanz verbessern und neue lukrative Geschäftsmodelle entwickeln.
«Wirtschaftlichkeit ist das oberste Ziel», sagt Florent Héroguel, Mitbegründer des 2019 entstandenen Unternehmens Bloom Biorenewables, kategorisch. Das Start-up, das 2020 mit dem renommierten Förderpreis der W.A. De Vigier-Stiftung ausgezeichnet wurde, will das Übel an der Wurzel packen und eine Alternative zum schwarzen Gold bieten, indem zur Herstellung von Plastik Biomasse verwendet wird.
«Geeignet sind Holz oder Nussschalen, aus denen mittels Bioraffination Kunststoffe entstehen», erklärt der junge Ingenieur. In einem umkämpften und riesigen Markt will das Unternehmen mit biologisch abbaubaren Verpackungen für die Lebensmittelindustrie punkten. Das Vorhaben scheint ideal zur Initiative zu passen, die Nestlé im Januar 2020 lanciert hat: Der Lebensmittelmulti will einen Risikokapitalfonds über 250 Millionen Franken für Unternehmen in diesem Bereich einrichten.
Neue patentierte Technologie
Mit dieser Unterstützung könnte Bloom Biorenewables sein Geschäftsmodell vorantreiben – in fünf Jahren rechnet das Unternehmen mit Umsätzen oder sogar Gewinn. Wie viele andere Start-ups dieser Branche plant auch Bloom Biorenewables eine Kombination von eigenen Produktionsstätten und solchen unter Lizenz. «Mittelfristig wollen wir Hunderte Arbeitsplätze schaffen.»
Zuvor gilt es jedoch, die erforderlichen Mittel aufzutreiben. Bloom Biorenewables sucht somit Geldgeber. Gleich geht es auch dem Start-up DePoly, das am anderen Ende der Wertschöpfungskette tätig ist. Durch Depolymerisation rezykliert das Unternehmen zwei chemische Komponenten von PET: Ethylenglykol und Terephthalsäure. Auch DePoly will hoch hinaus. Wenn sie die benötigten Mittel beschaffen kann, will die Geschäftsführerin von DePoly, die Chemikerin Samantha Anderson, eine erste Fabrik bauen – «am liebsten in der Schweiz» –, um das patentierte Verfahren bekannt zu machen, das weniger energieintensiv und billiger als bestehende Methoden sein soll.
Europäische Investoren finden Recycling nicht «sexy».
Staffan Ahlgren, CEO, Tyre Recycling Solutions
Geld beschaffen. Viel Geld. «Die meisten Start-ups in diesem Bereich suchen Geldgeber», stellt Eric Plan, Generalsekretär des Swiss CleantechAlps - Clusters, fest. Saubere Technologien brauchen eben viel Kapital: «Bezüglich Risikoinvestitionen liegt dieser Wirtschaftszweig etwa 15 Jahre hinter der Biotech-Branche», fügt Eric Plan hinzu. Es ist noch nicht gelungen, einheitliche Etappenziele zu definieren, die den Mehrwert der Technologie aufzeigen und die Bereitstellung von Risikokapital weniger riskant erscheinen lassen.»
Staffan Ahlgren, CEO von Tyre Recycling Solutions (TRS), bringt es auf den Punkt: «Europäische Investoren finden Recycling nicht sexy, vor allem nicht in der Schweiz.» Und er weiss, wovon er spricht. Das 2013 gegründete Unternehmen TRS stellt aus alten Autoreifen einen speziellen Kautschuk mit neuartigen mechanischen Eigenschaften her und hat bereits 20 Millionen Franken Investorengelder gesammelt. Im Moment läuft gerade eine neue Runde der Mittelbeschaffung. Ausserdem experimentiert TRS mit Plastikabfällen, die dem Kautschukpulver beigemischt werden. Die Mischung kann für neue Produkte wie Container und Fahrbahnschwellen verwendet werden.
Das Westschweizer Unternehmen hat bereits eine erste Produktionsstätte gebaut. Vor Kurzem gab es die Gründung eines Joint Ventures in China bekannt, wo laut Staffan Ahlgren das Potenzial dieses Industriezweigs besser verstanden wird. Weil Konjunkturschwankungen kaum eine Rolle spielen, eröffnet die Technologie fast unbegrenzte Möglichkeiten: «Für jede neue Anwendungsmöglichkeit gibt es einen globalen Markt.»
Sinnsuche: eine Priorität für Schweizer Start-ups
Das Start-up-Unternehmen UHCS das in der Baubranche tätig ist, produziert aus PET Elementen für die Erstellung neuartiger Modulhäuser. Plastogaz, ein Spin-off der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne, will aus nicht rezyklierbarem Kunststoff Methan herstellen, während Pyrotech die Verarbeitung von Plastikabfällen zu Brennstoff plant.
Die Vielzahl neuer Initiativen ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass die Start-ups in der Bekämpfung der Plastikflut einen Sinn sehen, der ihrem Wunsch, die Welt zu verändern, entspricht. «Ich suchte ein Projekt im Bereich Chemie mit grosser Wirkungskraft», betont Samantha Anderson, die Gründerin von DePoly.
Bei der Umsetzung ihrer Visionen stossen einige Firmen auf den Widerstand der petrochemischen Industrie, die das Feld nicht so leicht räumen und ihren Einfluss sogar noch ausbauen will. «Alle Unternehmen müssen erst zeigen, dass ihre Lösungen etwas taugen», unterstreicht Eric Plan von CleantechAlps. «Sie müssen belegen, dass sie energetisch genauso gut sind wie die bestehenden.»
Florent Héroguel ist sich der Problematik der Abholzung, die immer wieder thematisiert wird, durchaus bewusst. Der COO von Bloom Biorenewables versichert, dass man aus den Erfahrungen mit den Produkten aus der Biomasse der ersten Generation, zum Beispiel dem Bioethanol, gelernt hat. «Wir werden künftig primär mit Abfällen aus der Forst- und der Agrarwirtschaft arbeiten. Für den Schritt zur industriellen Produktion braucht es weitere Ressourcen, wie spezifische Plantagen.»
Um dem Raubbau an Rohstoffen vorzubeugen, ist laut Florent Héroguel auch eine Diversifizierung der Technologien notwendig. Und schliesslich sei es auch unumgänglich, dass unsere Gesellschaft weniger abhängig von Plastik wird.
Dieser Artikel von Aline Bassin erschien ursprünglich im Juni 2020 in der Westschweizer Zeitung Le Temps.