Armprothese

Cybathlon – die ersten Bionischen Spiele

Die Eidgenössische Technische Hochschule Zürich (ETHZ) organisiert im Oktober in Kloten den ersten Cybathlon – eine Weltpremiere. In einem wissenschaftlichen Wettbewerb messen sich 74 Athletinnen und Athleten mit körperlichen Behinderungen aus 25 Nationen. Sie treten mittels bionischer Prothesen, robotischer Exoskelette oder Gehirn-Computer-Schnittstellen gegeneinander an.

Die Welt erinnert sich noch an den 4. August 2012. Vor Millionen von Fernsehzuschauern lief der ohne Wadenbein geborene Südafrikaner Oscar Pistorius an den Olympischen Spielen in London mit Kohlefaserprothesen den 400-m-Vorlauf. Er war der erste Sportler, der sich dank technischer Hilfsmittel mit Nichtbehinderten messen konnte.

Der Fall Pistorius fasziniert, wirft aber auch Fragen auf: Sind seine sportlichen Leistungen auf seine Prothesen oder auf sein Training zurückzuführen? Was wird geschehen, wenn bionische Prothesen und robotische Exoskelette technisch so ausgereift sind, dass sie auch für sportliche Zwecke eingesetzt werden können? Vier Jahre später wird aus dieser Hypothese Realität – mit einem Wettkampf in der Schweiz.

Exoskelett

Eine Weltpremiere

Am 8. Oktober 2016 finden in Kloten die ersten Bionischen Spiele (Cybathlon) statt. An dieser Weltpremiere nehmen 74 internationale Sportlerinnen und Sportler mit Behinderungen teil. Sie treten mittels bionischer Prothesen und Gehirn-Computer-Schnittstellen an speziell für sie geschaffenen Parcours gegeneinander an. Diese modernen Cyborgs aus 25 Ländern messen sich in 59 Teams in verschiedenen Disziplinen, darunter sind auch sieben Teams aus der Schweiz.

Die Idee stammt von Robert Riener, ETH-Professor für sensomotorische Systeme. «Eines der Ziele des Cybathlons ist es, Forschende und Entwickler dazu anzuspornen, Technologien hervorzubringen, die Menschen mit Behinderungen auch tatsächlich im Alltag unterstützen.»

Robert Riener
Robert Riener ist Initiant und der Hauptverantwortlicher des Cybathlon © EPF Zurich/Alessandro Della Bella

Dem fügt der ETH-Professor an: «Mit bionischen Prothesen kann man schneller laufen als mit natürlichen Beinen. Aber es ist unmöglich, sich damit hinzusetzen. Die Forschung muss die Technologie fördern, und die Gesellschaft muss die Barrieren, die es für Menschen mit Behinderungen gibt, so weit als möglich abbauen.»

Die Behinderung überwinden

Ziel der Cyberathleten ist es nicht, körperliche Höchstleistungen zu erbringen, sondern die in den verschiedenen Parcours vorgesehenen alltäglichen Aufgabenstellungen dank technischer Assistenzsysteme zu meistern. Die Cyborgs, die seit Monaten von Robotiklabors aus der ganzen Welt trainiert werden, müssen zum Beispiel mit bionischen Prothesen Flaschen öffnen oder Fotos an einer Schnur aufhängen.

In einer anderen Disziplin überwinden die Athleten mit dem Rollstuhl Treppen. Eine weitere Disziplin ist ein Fahrradrennen mit elektrischer Muskelsimulation. Dank dieser Technik können Muskeln angespannt und folglich bewegt werden. Am Cybathlon in Kloten gibt es insgesamt sechs Disziplinen.

Alltagsrelevanter Parcours mit motorisierten Rollstühlen
Alltagsrelevanter Parcours mit motorisierten Rollstühlen ©EPF Zurich/Alessandro Della Bella

Es handelt sich in erster Linie um einen wissenschaftlichen Wettkampf. Die Sportlerinnen und Sportler trainieren seit über zwei Jahren mit ihrem Robotiklabor. Robert Riener hat ein ehrgeiziges Ziel: Er will diesen Wettkampf nicht nur dieses Jahr, sondern auch in Zukunft einmal pro Jahr organisieren, um die Zusammenarbeit zwischen Forschenden, Prothesenherstellern und Menschen mit Behinderungen weiterzuentwickeln.

Neue Forschungsprojekte

An diesem ersten Cybathlon fliessen die Forschungsaktivitäten im Bereich Robotik der ETHZ, der ETHL sowie der Hochschule für Technik Rapperswil und der Technischen Fachhochschule Bern zusammen. Im Vorfeld des Cybathlons, zu dem rund 5000 Personen erwartet werden, findet am 6. und 7. Oktober 2016 ein wissenschaftliches Symposium statt. Im Bereich der Robotik sind bereits neue Forschungsprojekte entstanden, die diese Technologien noch weiterentwickeln wollen.

Aus technischer Sicht steht die Robotik im Zentrum der Revolution der Biowerkstoffe, die sich darauf konzentriert, elektronische Systeme über Prothesen und Implantate mit dem menschlichen Körper zu verbinden. Dadurch sollen Dysfunktionen ausgeglichen werden. Wie die Organisatoren des Cybathlons ist der Forschungsplatz Schweiz besonders aktiv auf diesem Gebiet.

Gedankengesteuertes Computerspiel
Gedankengesteuertes Computerspiel ©EPF Zurich/Alessandro Della Bella

Eine weitere Revolution ist im Bereich der Mobilität von Robotern im Gang. Vorbild für die bionischen Prothesen und die Exoskelette sind die Natur und die Tiere, die die Kunst der Fortbewegung optimiert haben. Die Ingenieure überbieten sich an Innovation mit dem Ziel, die Handicaps durch ihre Technologien möglichst zu kompensieren. Sie überschreiten dadurch die Grenzen des Menschen und werfen gleichzeitig ganz neue Fragen auf. Mit oder ohne Behinderung – sind wir in Zukunft alle Cyborgs?

Die Geburt der Cyborgs

Die wissenschaftliche Fachwelt hat nicht auf den ersten Wettkampf von Oscar Pistorius gewartet, um sich diese Frage zu stellen. In Grossbritannien kann sich Kevin Warwick rühmen, der erste Cyborg der Geschichte der Menschheit zu sein. Der 62-jährige Professor für Kybernetik an der Universität Reading ist ein weltweit anerkannter Experte auf dem Gebiet der Robotik, der Bioethik und jüngst auch der künstlichen Intelligenz. Er führt seine Arbeiten und Forschungsaktivitäten zur Weiterentwicklung der Schnittstellen zwischen Mensch und Maschine mit angesehenen Universitäten (MIT, Harvard, Stanford), Robotiklabors und Unternehmen durch, die diese Technologien entwickeln. Kevin Warwick verlieh insbesondere dem Centre de micro et nanotechnologies der ETHL Impulse, das sich mit der Anwendung dieser Technologien im biomedizinischen Bereich befasst. Ziel ist es, die Grenzen der Behinderung zu überwinden. Wie?

Seit Ende der 1990er-Jahre dient Kevin Warwick der wissenschaftlichen Forschung als Versuchskaninchen. Er liess sich elektronische Teile in den Körper implantieren, die es ihm erlaubten, mit Computern und Robotern zu interagieren. 1998 liess er sich als erster Mensch einen Computerchip (RFID-Chip) in den linken Unterarm einpflanzen. Über diesen Chip konnte der Kybernetikprofessor die Türen seines Labors öffnen und schliessen. Dieses Experiment dauerte jedoch nur neun Tage. 2002 ging der Wissenschaftler mit seinem Projekt «The Brain Gate» noch einen Schritt weiter: Er liess sich eine von Dr. Mark Gasson entwickelte neuronale Schnittstelle ins Gehirn implantieren.

Geschicklichkeitsparcours mit angetriebenen Armprothesen
Geschicklichkeitsparcours mit angetriebenen Armprothesen ©EPF Zurich/Alessandro Della Bella

Das erste Experiment dieser Art sollte drei Monate dauern. Mit dieser Technologie kann er eine Roboterhand über ein beliebiges WIFI-Netz steuern und eine Verbindung mit der bionischen Hand herstellen. Dies ist unabhängig von seinem geografischen Standort möglich. An einer Konferenz an der Universität Bogotá sieht das Publikum auf einem Computer das Nervensystem von Kevin Warwick und kann zuschauen, wozu er fähig ist. In einer Direktübertragung aus Kolumbien bewegt er die bionische Hand, die in Reading (Grossbritannien) geblieben ist.

Ende der Paralympics?

Diese wissenschaftlichen Erfahrungen mit dem Gehirn eröffnen Möglichkeiten für Menschen mit einer neurodegenerativen Erkrankung, einer Behinderung oder mit Amputationen. In Japan entwickelt die Superhuman Sports Academy neue sportliche Disziplinen, die von diesen neuen Technologien profitieren. Dazu gehören Fussballspiele, die mit einem Helm für erweiterte Realität ausgetragen werden, oder Exoskelettrennen. An den Olympischen Spielen von 2020 in Tokio plant die Superhuman Sports Academy die Aufnahme neuer sportlicher Disziplinen, die auf Technologien zur Stärkung und Erweiterung der menschlichen Kapazitäten beruhen. Am Ende wird die Unterscheidung zwischen Paralympics und Olympischen Spielen hinfällig.

Radrennen mit elektrischer Muskelstimulation
Radrennen mit elektrischer Muskelstimulation ©EPF Zurich/Alessandro Della Bella