Das CERN sät eine Saat des Friedens im Nahen Osten
In Tausendundeiner Nacht ist «Sesam öffne dich» jenes Zauberwort, das Ali Baba die Tore zu unerhörten Schätzen öffnete. Dieses klassische Märchen veranlasste in den 1990er-Jahren Physiker an der Europäischen Organisation für Kernforschung (CERN) in Genf dazu, Überlegungen anzustellen, ob sich das CERN-Modell von Wissenschaft und Frieden im Nahen Osten replizieren liesse. Es bedurfte jahrelanger harter Arbeit und komplexer Verhandlungen, um den Traum in die Tat umzusetzen. Die neue Anlage trägt den Namen SESAME.
Das Akronym SESAME steht für «Synchrotron-light for the Experimental Science and Applications in the Middle East» (Synchrotron-Strahlung für experimentelle Anwendungen im Nahen Osten). Es bedurfte jahrelanger harter Arbeit und komplexer diplomatischer Verhandlungen in einer seit Jahrzehnten von politischen Turbulenzen erschütterten Region, um den Traum einer Kooperation von Wissenschaftlern und Regierungen nach dem Vorbild des CERN in die Tat umzusetzen. Unter der Schirmherrschaft der UNESCO wurde SESAME am 16. Mai 2017 in Allan, Jordanien, offiziell eingeweiht. Beteiligt sind acht Mitgliedstaaten, darunter der Iran und Israel. Die Schweiz trat der zwischenstaatlichen Wissenschaftsorganisation 2010 als Beobachterin bei. Das Paul-Scherrer-Institut, das im Kanton Aargau die «Swiss Light Source», eine Synchrotron-Lichtquelle der dritten Generation betreibt, stellte technische Hilfe und Material bereit und bildete jahrelang Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus, die heute bei SESAME arbeiten. Dank SESAME können Mitglieder der wissenschaftlichen Gemeinschaft der Region Spitzenforschung in Themenbereichen von Biologie bis zu Archäologie betreiben und sich an wissenschaftlichen Kooperationen beteiligen, die eine Kultur des Friedens in der Region fördern.
Eine Kultur des Friedens aufbauen
Wir trafen uns in der Cafeteria des CERN mit Herwig Schopper, emeritierter Professor an der Universität Hamburg, ehemaliger Generaldirektor des CERN und ehemaliger Präsident von SESAME, um über die Geschichte von SESAME zu sprechen. Der 94-jährige Herwig Schopper hat zusammen mit anderen Wissenschaftlern, die bei der Gründung von SESAME mitgewirkt haben, soeben den renommierten Preis für Wissenschaftsdiplomatie (Science Diplomacy Award) 2019 der Amerikanischen Gesellschaft zur Förderung der Naturwissenschaften (AAAS) erhalten. Schoppers Entscheidung im Jahr 2000, bei dem Projekt SESAME mitzumachen, lag auf der Hand, da er sein Leben der Teilchenphysik, dem CERN und den Werten gewidmet hatte, die das CERN seit jeher verkörpert. Im gleichen Jahr wurde er zum Vorsitzenden des Interimsrats von SESAME ernannt. Mit verdientem Stolz sagte er uns: «Das CERN ist eine zwischenstaatliche Organisation, die wissenschaftliche Exzellenz und Zusammenarbeit fördert. Es entstand aus den Trümmern des Zweiten Weltkriegs als eine der ersten Initiativen, die darauf abzielten, den Frieden zu festigen, Europa zusammenzuführen und wieder stark zu machen. Das CERN und Genf wurden zu einem kulturellen Schmelztiegel, in dem es egal war, woher die Forscherinnen und Forscher kamen. Was damals zählte und was heute zählt, ist ihr Beitrag zur Wissenschaft. Wunder wie die Erfindung des World Wide Web sind glückliche Zufälle, das Ergebnis von über 60 Jahren Forschung am CERN». Die Verbreitung einer Kultur des wissenschaftlichen Austauschs und die Förderung der friedlichen wissenschaftlichen Zusammenarbeit wurde für Schopper zur Berufung und war auch der Grund, weshalb er sich vor fast zwei Jahrzehnten auf das Projekt SESAME einliess.
Wenn Liebe auf Wissenschaft trifft, ist alles möglich
Schoppers Weg war voller Überraschungen und Herausforderungen. Er brachte viel wissenschaftliches und unternehmerisches Know-how in das Projekt ein, erkannte aber schnell, dass er sich als Diplomat würde neu erfinden müssen, um die wissenschaftlichen Ziele von SESAME gegenüber den einzelstaatlichen politischen Interessen der Mitgliedstaaten durchzusetzen. Israel, die Islamische Republik Iran, die Palästinensische Autonomiebehörde und die anderen fünf Mitgliedländer an einen Tisch zu bringen und sie davon zu überzeugen, historische und politische Differenzen beiseite zu legen, um gemeinsam eine zwischenstaatliche wissenschaftliche Organisation zu gründen, war eine ungeheuer schwierige Herausforderung. Die Wahl des Gastlandes und des Standorts, an dem die Anlage errichtet werden sollte, war die grösste Knacknuss von allen. Schopper inspizierte 12 potenzielle Standorte, bevor der Standort Allan in Jordanien, der schliesslich den Zuschlag erhielt, von allen Mitgliedstaaten akzeptiert wurde. Jordanien wurde vor allem deshalb ausgewählt, weil es ein relativ kleines, weltoffenes Land im Zentrum der Region ist, über eine gut ausgebaute Infrastruktur verfügte und sich verpflichtete, Forscherinnen und Forschern aus aller Welt Zugang zu der Anlage zu gewähren – die Parallelen zur Schweiz als Gaststaat des CERN in Europa sind offensichtlich.
Als Schopper Ende der 1990er-Jahre auf der Suche nach dem passenden Standort für SESAME Jordanien besuchte, war er mit einer Reihe von bürokratischen Hürden konfrontiert, die ihn beinahe dazu bewogen, aufzugeben. Doch der Zufall wollte es anders. Am Tag vor seiner Abreise lud ihn ein ehemaliger Student zum Abendessen ein. Zu Schoppers Überraschung war auch der jordanische Prinz Ghazi bin Mohammed zugegen. Die beiden Männer kamen ins Gespräch, ein Thema führte zum anderen, und wie so oft, wenn zwei Wissenschaftler aufeinandertreffen, kamen sie schon bald auf ihre jeweilige Doktorarbeit zu sprechen. Prinz Ghazi bin Muhammad hatte einen Teil seiner Dissertation an der Universität Cambridge mit dem Titel «What is Falling in Love» auf die wissenschaftlichen Abhandlungen über das Wesen der Liebe des Schweizer Kulturtheoretikers und europäischen Föderalisten Denis de Rougemont abgestützt. Schopper wusste, dass de Rougemont bei der Gründung des CERN eine zentrale Rolle gespielt hatte. De Rougemont hatte auf der Europäischen Kulturkonferenz 1949 in Lausanne als erster den Vorschlag eingebracht, eine gemeinsame europäische Forschungsinstitution ins Leben zu rufen – das spätere CERN – nach dessen Vorbild SESAME errichtet werden sollte. Mit de Rougemont fand Schopper die fehlende Verbindung zwischen Wissenschaft und Liebe. Es gelang ihm, die persönliche Beziehung zum jordanischen Prinzen aufzubauen, die er brauchte, um ihn von seinem Projekt zu überzeugen. Der Prinz arrangierte für Schopper am nächsten Tag ein Treffen mit dem jordanischen König, und Jordanien erklärte sich schliesslich bereit, als Gaststaat für SESAME zu fungieren.
Schopper blickt wehmütig zurück. «Die Experimente des CERN erhöhen die Wahrscheinlichkeit von unwahrscheinlichen Kollisionen zwischen subatomaren Teilchen, und das gilt gewissermassen auch für die menschliche Ebene, indem sie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterschiedlicher kultureller Herkunft zusammenbringen. SESAME ist das Ergebnis dieser Kollisionen».
Die nächste Herausforderung wartet
SESAME ist heute in Betrieb, beschäftigt über 60 Mitarbeitende und zieht eine wachsende Gemeinschaft von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern an, die eine Vielzahl von Experimenten durchführen. Schopper ist zuversichtlich, was den Fortgang der wissenschaftlichen Zusammenarbeit zwischen SESAME-Forschenden angeht, aber besorgt über die politische Instabilität in der Region. Die Syrienkrise zum Beispiel hat gravierende negative Auswirkungen auf die Stromkosten der Anlage. Dies ist auch einer der Gründe, weshalb er Länder mit einer starken Tradition der Friedensförderung wie die Schweiz lobt. Schopper geniesst seinen Ruhestand fernab des CERN und seiner Labors und darf stolz darauf sein, seine Mission erfüllt zu haben. Damit lässt er es aber nicht genug sein. Er engagiert sich bereits für einen weiteren Ableger des CERN: einen Synchrotron in der Balkanregion. Aber das ist eine andere Geschichte ...