Das Labor Spiez: Eine diskrete Erfolgsgeschichte
4. März 2018 – Ein Mann und eine Frau werden im englischen Salisbury bewusstlos aufgefunden. Nur wenig später ist klar: Es handelt sich um Sergei Wiktorowitsch Skripal und seine Tochter Yulia. Brisant: Skripal ist ein ehemaliger Oberst des sowjetischen, später russischen Militärnachrichtendienstes GRU, Überläufer und somit Informant des britischen Auslandsgeheimdienstes MI6. Schon bald steht fest, dass Vater und Tochter Opfer eines Giftanschlags geworden sind. Die Weltpresse hat eine Story à la James Bond und das Labor Spiez einen Auftrag. Doch was ist das Labor Spiez?
Im Auftrag der Schweiz, im Dienste der Welt
Schon James-Bond-Autor Ian Fleming hat wohl geahnt, dass das kleine Land im Herzen Europas zu grossen Taten fähig ist, ansonsten hätte er wohl nicht eine Schweizerin, die Waadtländer Bergsteigerin Monique Bond, geborene Delacroix, zur Mutter des weltweit berühmtesten Geheimagenten auserkoren.
Doch wie mit der Identität der Mutter von James Bond, die man eher beiläufig erfährt, verhält es sich auch mit dem Labor Spiez. Man weiss zwar, dass es existiert, das Labor selbst gibt sich jedoch über seine Arbeit verschwiegen – sozusagen nach dem Motto: Tue Gutes und rede nicht darüber. Wäre James Bond im Heimatland seiner Mutter aufgewachsen und wäre er für den Nachrichtendienst der Schweiz tätig gewesen, seine Agentenausbildung hätte ihn vielleicht auch ins Labor Spiez geführt.
Doch in Anbetracht der Tatsache, dass der Geheimdienst Ihrer Majestät James Bond alias 007 einen Aston Martin als Dienstwagen zur Verfügung stellt, kann man den Entscheid von James Bond verstehen, dass er dann doch lieber beim MI6 angeheuert hat. Dass James Bond im Laufe seiner Agentenkarriere dennoch mit dem Labor Spiez in Kontakt kam, ist sehr gut möglich. Doch werden wir dies aufgrund der Diskretion des Labors Spiez nie erfahren. Denn schon einige Male führten seine Aufträge James Bond zurück in die Heimat seiner Mutter. Sei es, als er den in einem 1937er Rolls Royce Phantom III mit getarnter Karosserie aus Gold die Schweiz durchquerenden Goldschmuggler Auric Goldfinger im gleichnamigen Film von 1964 mit seinem Aston Martin DB5 über den Furkapass jagte, oder als er 1969 seinen Erzfeind und Leiter der Terrororganisation «S.P.E.C.T.R.E.», Ernst Stavro Blofeld, «Im Geheimdienst Ihrer Majestät» auf dem Schilthorn alias Piz Gloria im Berner Oberland zur Strecke brachte.
Wie so oft bei James Bond ging es auch bei diesen beiden Einsätzen um geheime und hochgefährliche Substanzen. Im Falle von «Goldfinger» um eine auf den nackten Körper aufgebrachte Goldsubstanz, die zum Erstickungstod führen kann, und im Falle von «Im Geheimdienst Ihrer Majestät» um einen Krankheitserreger, der die Weltbevölkerung ins Unglück stürzen soll. Es darf davon ausgegangen werden, dass auch hier das Labor Spiez diskret zur Aufklärung der beiden Fälle beigetragen hat. Denn die Analyse von Substanzen gehört zum Kerngeschäft des Labors Spiez. Doch was veranlasste die Schweizer Regierung, dieses Institut aufzubauen, das längst nicht mehr nur Substanzen analysiert und das längst nicht mehr nur im Dienste der Schweiz, sondern der Weltgemeinschaft steht?
Lehren aus dem Ersten Weltkrieg – die Geburtsstunde des Labors Spiez
Im Nachgang der verheerenden Giftgaseinsätze im Ersten Weltkrieg (1914–1918) sah sich die Schweizer Regierung zum Handeln gezwungen. 1923 genehmigte die Landesregierung die Schaffung einer Gasschutzstelle an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) in Zürich, die 1925 in die Eidgenössische Pulverfabrik Wimmis verlegt wurde. Der Grundstein für die schweizerische Fachstelle für den Schutz der Bevölkerung vor atomaren, biologischen und chemischen Bedrohungen und Gefahren – dem Labor Spiez – war gelegt.
Zu Beginn lag der Schwerpunkt der Arbeit auf der Entwicklung von Gasmasken. Ab 1928 experimentierte man auch mit Masken für die Pferde der Kavallerie. Und auch die Brieftauben der Armee sollten geschützt werden, weshalb ein Modell für einen belüfteten Brieftaubenwagen erarbeitet wurde.
Der Zweite Weltkrieg
Den Schrecken des Ersten Weltkrieges noch im Nacken und jenen des Zweiten Weltkrieges erahnend entschied die Landesregierung auf Antrag des Generalstabs 1937, in der Armee Vorbereitungen für den chemischen Krieg zu treffen. Die chemische Industrie, die noch heute grösstenteils in Basel angesiedelt ist, hatte im Auftrag des Militärdepartements im September 1939 bereits eine Tonne Yperit (Senfgas) hergestellt. Mit Beschluss der Landesregierung vom 29. September 1939 wurde der Herstellung von 300 Tonnen Yperit zugestimmt. Es entstand auch eine Munitionsabfüllanlage für Kampfstoffe, die jedoch nie in Betrieb genommen wurde. Am Ende des Zweiten Weltkriegs wurden die Giftgasbestände ab 1947 schrittweise abgebaut. Die letzten 3 Tonnen wurden ab Mitte der 1980er Jahre im chemischen Sicherheitslabor des Labors Spiez vernichtet.
Nachkriegszeit
Die Atombombeneinsätze von Hiroshima und Nagasaki von 1945 konfrontierten die Schweiz mit einer Waffe, die ein völlig neuartiges Zerstörungspotenzial aufwies. Im Sinne einer Konzentration der Kräfte übertrugen die zuständigen Behörden die Prüfung von Schutzmaterial und Schutzgeräten dem Labor Spiez, das sich nun mit der neuen Bedrohungsform zu befassen hatte. Dieser erweiterte Aufgabenbereich fand in der geänderten Bezeichnung AC-Laboratorium seinen Ausdruck. Der Fachbereich ABC-Schutztechnologie des Labors kümmert sich bis heute um die Qualitätsprüfung der Schutzbauten, und der Fachbereich Physik bearbeitet Fragen zur Herstellung, Verwendung und Weiterverarbeitung bis hin zur Vernichtung von Nuklearwaffen. Seit den Nuklearkatastrophen von Tschernobyl und Fukushima prägen auch zivile Gefahren im Zusammenhang mit der Nukleartechnologie die Arbeit des Labors.
Internationale Ausrichtung nach dem Fall der Berliner Mauer
Nach dem Fall der Berliner Mauer 1989 und dem Ende des Kalten Krieges fand im Labor Spiez eine intensive Diskussion über eine Neuausrichtung statt, denn zu einem umfassenden Schutz vor ABC-Waffen gehören auch Massnahmen zur Rüstungskontrolle in diesem Bereich. Bereits 1984 untersuchte eine Delegation des Labors Spiez im Auftrag des UNO-Generalsekretärs, ob im Krieg zwischen Irak und Iran (1980–1988) chemische Kampfstoffe eingesetzt worden waren. Entsprechende Proben wurden in Spiez und – zwecks Einholung einer zweiten unabhängigen Meinung – auch in einem Labor in Schweden untersucht. Beide Institute konnten übereinstimmend Yperit und Tabun nachweisen.
Nach der ersten Mission im Irak folgten weitere Aktivitäten auf diesem Gebiet, so auch in der Sonderkommission der UNO zur Überwachung des Waffenstillstandsabkommens im Irak, die nach dem zweiten Golfkrieg 1991 gebildet wurde. UNO-Generalsekretär Kofi Annan (1938–2018) war voll des Lobes für die Arbeit des Labors Spiez und zollte diesem 1997 mit einem persönlichen Besuch Respekt.
Im Zuge der strategischen Neuorientierung und im Rahmen der traditionellen «guten Dienste» der Schweizer Diplomatie begann das Labor Spiez, die schweizerischen Delegationen an Abrüstungsverhandlungen regelmässig mit Fachwissen zu unterstützen. Zudem leistet es mit der Organisation internationaler Konferenzen einen Beitrag zur Verhinderung der Proliferation von Massenvernichtungswaffen. Dieses Engagement ist bis heute ungebrochen. Denn die Zusammenarbeit zur Abrüstung und Friedensförderung gewinnt laufend an Bedeutung. In den letzten Jahrzehnten konnte sich das Labor Spiez zu einem weltweit anerkannten Kompetenzzentrum und zu einem Instrument der schweizerischen Sicherheitspolitik entwickeln. Es ist denn auch nicht erstaunlich, dass das Labor Spiez seit der Gründung der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) 1997 zu den weltweit rund 20 OPCW-zertifizierten Fachlaboratorien zählt. Innerhalb dieser ausgewählten Gruppe gehört das Labor Spiez zu den ganz wenigen, die den hohen Anforderungen der OPCW bei den jährlichen Prüfungen ohne Unterbruch standhalten konnten, so dass es bis heute als Fachlabor im Dienste der OPCW steht. Vor diesem Hintergrund und angesichts der Tatsache, dass seit 1953 Schweizer Soldaten im Rahmen des nunmehr längsten Einsatzes der Schweizer Armee im Ausland die Einhaltung des Waffenstillstandsabkommens an der Demarkationslinie zwischen Nord- und Südkorea in Panmunjeom überwachen, ist es denn auch verständlich, dass nach dem Treffen des amerikanischen Präsidenten Donald Trump und des nordkoreanischen Machthabers Kim Jong Un vom 12. Juni 2018 in Singapur das Labor Spiez in den Medien bereits als Teil der Überwachungskommission bei einer allfälligen Abrüstung Nordkoreas gehandelt wurde.
Für die UNO, deren Umweltprogramm UNEP, die Internationale Atomenergieagentur IAEA, die Weltgesundheitsorganisation WHO und das Internationale Komitee vom Roten Kreuz IKRK ist das in einem neutralen Land beheimatete Labor Spiez zu einem wichtigen Partner geworden. Die Bedeutung der Arbeit des Labors Spiez lässt sich auch daran ablesen, dass das Labor Spiez als Vertrauenslabor für drei Organisationen arbeitet, die mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurden:
- 1963: International Committee of the Red Cross (ICRC)
- 2005: International Atomic Energy Agency (IAEA)
- 2013: Organisation for the Prohibition of Chemical Weapons (OPCW)
Und der Fall Skripal? Die Weltpresse, Politiker, hohe Beamte und teils selbst ernannte Experten haben sich während Monaten mit Mutmassungen, Stellungnahmen und Verdächtigungen zu diesem Fall überschlagen und sich gegenseitig der Lüge bezichtigt. Nur das durch die OPCW mit der Analyse der giftigen Substanz beauftragte Labor Spiez im Berner Oberland tat in Ruhe seine Arbeit, lieferte Resultate und hielt sich mit öffentlichen Aussagen zurück. Auch James Bond hat nie ein Aufheben davon gemacht, wie oft er schon die Welt gerettet hat.