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Nestlé will Allergien heilen

Der Schweizer Weltkonzern hat von der EU kürzlich die Zulassung für ein Erdnussallergiemittel erhalten. Dies ist nur der Anfang, verspricht der Nestlé-Health-Science-Chef und macht Allergiebetroffenen Hoffnung.

Erdnüsse, natürlich. Aber auch Pollen, Soja, Eier. Bis vor zehn oder zwanzig Jahren litt nur ein sehr kleiner Teil der Bevölkerung unter Allergien. Eine Randgruppe scheinbar, deren körperliches und seelisches Leiden kaum wahrgenommen wurde. Heute ist das anders.

Es gibt immer mehr Allergikerinnen und Allergiker. Zwischen 2005 und 2015 hat sich die Zahl der Betroffenen in der Schweiz (und weltweit) verdoppelt: Laut dem Verband Service Allergie Suisse sollen 30 Prozent der Bevölkerung unter Allergien oder Intoleranzen leiden. Die für diesen Artikel befragten Fachleute gehen von 1 bis 1,5 Millionen Personen aus – das Bundesamt für Statistik kann hierzu keine genauen Angaben machen. Diese Schätzungen sind mit grosser Vorsicht zu betrachten und abhängig davon, ob man nur die Personen berücksichtigt, die am Verzehr einer Erdnuss sterben könnten, oder auch diejenigen, die unter leichtem Heuschnupfen leiden.
 

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Ein Billionen-Dollar-Markt

Die einzige Empfehlung der Medizin an die Betroffenen war bisher die, den Proteinen aus dem Weg zu gehen, die bei ihnen solch schwere allergische – sprich anaphylaktische – Reaktionen hervorrufen. Die gute Nachricht für sie: Ihre steigende Zahl weckt das Interesse grosser Konzerne. «Das ist logisch», sagt François Spertini, Facharzt für Immunologie und Allergie am Universitätsspital Lausanne. Es handelt sich um einen Wachstumsmarkt, der mittlerweile auf mehrere Billionen US-Dollar geschätzt wird.»

Ein Problem im Grenzbereich zwischen Ernährung und Medizin musste das Interesse eines gewissen Schweizer Weltkonzerns wecken. Im vergangenen Jahr hat Nestlé den Allergiespezialisten Aimmune Therapeutics übernommen. Dessen Blockbuster Palforzia wirkt als orale Immuntherapie (Desensibilisierung) gegen Erdnussallergie. Das Arzneimittel wurde im Januar 2020 von der US-amerikanischen Heilmittelbehörde und im Dezember 2020 von der EU zugelassen. In der Schweiz wurde am 7. November 2019 ebenfalls ein Antrag auf Marktzulassung für Palforzia bei Swissmedic eingereicht, der Entscheid steht noch dieses Jahr an. Für Greg Behar, Chef von Nestlé Health Science (NHSc), der Sparte, zu der Aimmune Therapeutics gehört, ist das erst der Anfang.

Es stimmt, dass Allergien in den letzten Jahren etwas vernachlässigt wurden», sagt Greg Behar. Aimmune Therapeutics wurde übrigens ursprünglich von kalifornischen Unternehmern finanziert, deren Kinder an Erdnussallergien litten und die kein Medikament auf dem Markt finden konnten. Die Stärkung der Position von Nestlé in diesem Bereich ist eine grosse Chance für die Gesundheit.

Standardisierte Desensibilisierung

Bei schweren Allergien, die es Kindern und Erwachsenen verunmöglichen, ein normales Leben zu führen, half bisher nur eine Desensibilisierung.

Das versuchen wir schon seit fast 100 Jahren», sagt Thomas Hauser, Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Allergologie und Immunologie. Ärztinnen und Ärzte verabreichen den Betroffenen die ursächlich beteiligten Proteine oral oder subkutan. Das ist relativ effektiv.

Aber es gibt zwei Probleme. Erstens kehrt die Unverträglichkeit zurück, sobald man den Prozess unterbricht. Und zweitens kann das Kind dann zwar versehentlich Spuren von Erdnüssen verzehren, ohne zu sterben, aber es wird nie gefahrlos eine Handvoll davon essen können. «Wir modifizieren die Immunantwort, aber das verhindert lediglich, dass Allergikerinnen und Allergiker sterben, wenn sie mit Spuren konfrontiert werden, mehr nicht», bestätigt François Spertini.

In die gleiche Richtung geht Nestlé mit Palforzia. Bisher haben einige Allergologen Erdnüsse zermörsert, um den Patientinnen und Patienten kleine Mengen des Allergens zu verabreichen. «Es war ziemlich handgestrickt», kommentiert Nicolas Fouché, Vizepräsident von Aimmune Therapeutics. «Es gibt 15 Arten von Erdnussproteinen. Verwenden Sie nicht die richtige, ist der Patient schlecht geschützt. Schlimmer noch, geben Sie die falsche Dosierung, können Sie den Patienten gefährden...»

«Im Fall von Palforzia handelt es sich um ausgewählte, gefilterte, standardisierte Erdnussproteine, die den Kindern im Alter von 4 bis 17 Jahren in definierter, schrittweise steigender Dosierung verabreicht werden», sagt Greg Behar und weist darauf hin, dass die Kosten für die Patientinnen und Patienten sinken werden (eine «massgeschneiderte» Behandlung kann in den USA bis zu 15 000 US-Dollar pro Jahr kosten, während Palforzia für 890 US-Dollar pro Monat, also 10 680 US-Dollar pro Jahr, verkauft wird, wobei dieser Preis laut Nestlé «nicht notwendigerweise ein Hinweis auf den europäischen Preis ist»).

«Vor allem ist Palforzia nur ein erster Schritt», verspricht Greg Behar. «Wir sind entschlossen, unser Sortiment zu erweitern. Viele Menschen sind zum Beispiel allergisch auf Nüsse, Eier, Milch oder Meeresfrüchte. Die Zukunft sieht rosig aus für Aimmune Therapeutics. Noch ist das Unternehmen nicht profitabel (im ersten Halbjahr 2020 schrieb man Verluste in Höhe von 155 Millionen US-Dollar). 2023 sollte es laut Greg Behar jedoch aus den roten Zahlen herauskommen.

Auf dem Weg zu einem Impfstoff gegen Allergien?

Aber würde eine bahnbrechende Innovation nicht darin bestehen, einen Schritt weiter zu gehen? Eine Art Impfstoff gegen alle Allergien? «Bisher lag der Fokus auf spezifischen Impfstoffen für spezifische Allergene, mit mässigem Erfolg», kommentiert François Spertini. Die Lösung wäre, herauszufinden, wie man das Gen, das die unerwünschte Reaktion produziert, direkt ausschalten kann. Das Problem an den Wurzeln angehen, anstatt nur die Symptome zu bekämpfen.»

Diesbezüglich scheint Dupixent, ein Medikament, das der französische Arzneimittelhersteller Sanofi im vergangenen Jahr auf den Markt gebracht hat, recht vielversprechend zu sein. Aber es muss jede zweite Woche subkutan injiziert werden und kostet 1500 Franken pro Monat. «Es wirkt gegen Ekzeme, indem es die Produktion von Interleukin 4 hemmt», führt François Spertini aus. «Das ist ein guter Ansatz. Und die Tatsache, dass die grossen multinationalen Konzerne in dieses Geschäftsfeld einsteigen, ist ein gutes Zeichen. Wir können damit rechnen, dass in den kommenden Jahren immer ausgefeiltere Lösungen präsentiert werden...»

Greg Behar hat die gleichen Ambitionen. Nestlé arbeitet ausserdem gemeinsam mit Sanofi an klinischen Studien zur Kombination von Dupixent und Palforzia bei Patientinnen und Patienten mit einer Erdnussallergie.

Ein Impfstoff? Wenn wir könnten, würden wir es sofort tun. Wir arbeiten daran. Ich hoffe in der Tat, dass wir die Patientinnen und Patienten eines Tages gegen alle Allergien impfen können.

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155 Jahre Kampf gegen Allergien

Das Thema Allergien ist für Nestlé alles andere als neu. 1866 entwickelte Henri Nestlé sein Kindermehl «Farine lactée» für Säuglinge, die nicht gestillt werden konnten. «In der Folge lag der Fokus bei der Entwicklung eines Grossteils der Produktpalette bei Milchallergien. Nestlé kümmert sich seit jeher um die Allergieproblematik, und mit der enormen Vielfalt in der Ernährung hat sich dies noch verstärkt», sagt Greg Behar. Erdnussunverträglichkeit ist der häufigste Allergieauslöser weltweit. Da war es nur folgerichtig, dass wir uns für Aimmune Therapeutics interessierten.

Die 2,6 Milliarden US-Dollar schwere Übernahme ist die grösste der Nestlé-Health-Science-Sparte (knapp hinter Atrium, das im Bereich Vitamine und Nahrungsergänzungsmittel tätig ist und 2017 für 2,3 Milliarden US-Dollar übernommen wurde). Dies ist Teil des Umbaus, der beim weltweit grössten Nahrungsmittelkonzern im Gange ist und der seit der Ankunft von Chef Mark Schneider im Jahr 2017 weiter vorangetrieben wird.

Vergleichen Sie den Konzern mit Danone, KraftHeinz oder Unilever, und Sie werden sehen, dass Nestlé sich klar abhebt», sagt Vontobel-Analyst Jean-Philippe Bertschy. «Nestlé behält einen Fuss im Lebensmittelgeschäft, setzt aber auf wissenschaftsbasierte Innovationen, die zur Gesundheit und zum Wohlbefinden der Konsumentinnen und Konsumenten beitragen.

 

 

Dieser Artikel von Valère Gogniat erschien ursprünglich im Februar 2021 in der Westschweizer Zeitung Le Temps.