Das Revival der Schweizer Mythen und Legenden
Der Apfel auf dem Kopf des Jungen, der Schuss aus der Armbrust, der den Apfel entzweit: Der Mythos von Wilhelm Tell, der mit seiner Weigerung, den Hut eines Mächtigen zu grüssen, zum Inbegriff für den Unabhängigkeitswillen der Schweiz wurde, ist weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt. Der tapfere Urner ist jedoch nicht der Einzige, der Stoff für die Schweizer Legenden lieferte: Neben ihm wimmelt es von Feen und Bergmännlein, Riesenfischen und bösen Hexen, die das Wasser der Bachläufe anpeitschen. Viele dieser Geschichten sind in Vergessenheit geraten. Heute werden sie dank Verlegern, die von ihrem Interesse überzeugt sind, für die Allgemeinheit neu zugänglich gemacht.
Die Figur des schlauen Bauern
Die Autorin Katharina Morello hat in ihrem Buch Meine Schweizer Märchen (Breitschopf Verlag, 2016, nur deutsch) 66 Märchen gesammelt. Die Zahl und Vielfalt dieser Geschichten, die vor allem durch die Werke des grossen Schweizer Volkskundespezialisten Otto Sutermeister (1832–1901) überliefert sind, haben sie überrascht. «Sie widerspiegeln die Vielfalt der Schweiz, ihrer Berge und Täler, Städte und Landschaften und ihrer Lebensweisen», führt Morello aus. «In der französischen Schweiz ist viel von Feen die Rede, in der Zentralschweiz stehen häufig Bergmännchen oder Berggeister im Fokus. Und überall findet sich die Figur des schlauen Bauern, der dem Teufel ein Schnippchen schlägt.»
Diese Geschichten werden mit viel Witz und einer tiefgründigen Kenntnis des menschlichen Wesens erzählt, unterstreicht die Autorin. Wie anderswo geht es darin um die Kernanliegen der Menschen: Glück und Geld, die gefunden werden oder verloren gehen, das Böse in verschiedener Gestalt, das bekämpft werden muss, der Umgang mit schwierigen Situationen und immer wieder die Suche nach dem idealen Partner oder der idealen Partnerin.»
Furcht vor der unberechenbaren Natur
Die meisten dieser Mythen «entspringen der Furcht vor einer unberechenbaren Natur, mit der man leben muss», schrieb Alexandre Daguet 1872 in seinem Werk Traditions et légendes de la Suisse romande. So hat der Walliser Berg «Les Diablerets» seinen Namen von den Teufeln (diables), die angeblich dort herumspukten und mit den Felsen kegelten, was auch die Bezeichnung «Quille-du-Diable» (quille=Kegel) für einen Felsen in der Gegend erklärt. Der Zeichner Denis Kormann, ein grosser Freund der Walliser Berge, findet viel Inspiration im «spektakulären visuellen Potenzial» der Alpenwelt. Das Ergebnis Mein grosses Buch der Schweizer Sagen und Legenden ist im Verlag Helvetiq (2017) erschienen. Der Waadtländer fand ein Kulturerbe von solchem Reichtum vor, dass er beschloss, zwei weitere Bände zu veröffentlichen.
«Ich nutze diese Legenden auch zur Übermittlung der Botschaft, dass unser Naturerbe verletzlich ist und erhalten werden muss», betont der Zeichner. Und staunt, wie beliebt die nordischen Sagen und Geschichten über Superhelden sind. «Dabei enthalten unsere eigenen Märchen und Legenden dieselben magischen Elemente, ganz zu schweigen von den Botschaften über die Habgier der Menschen.» Gegenstand seiner ersten Zeichnung war die Legende von der Teufelsbrücke, die 1802 von William Turner verewigt wurde. Diese ist jedoch nicht im ersten Band zu finden. Vorab hier deshalb ein paar Kostproben dieser und weiterer Legenden:
Die Teufelsbrücke (Uri)
Als die Urner Bevölkerung die Errichtung einer neuen Steinbrücke fordert, bietet ihnen ein Fremder seine Hilfe an. Als Gegenleistung verlangt er die Seele desjenigen, der als Erster die Brücke überquere. Nachdem der Teufel die Brücke gebaut hat, schicken die schlauen Urner einen Geissbock über die Brücke. Erzürnt holt dieser einen haushohen Stein, mit dem er die Brücke zerschlagen will. Er verfehlt jedoch sein Ziel, und der «Teufelsstein» landet in der Nähe von Göschenen, wo er heute noch zu sehen ist.
Die Belalp-Hexe (Wallis)
Sicher ist: Die Belalp-Hexe wurde auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Einigen Versionen zufolge soll sie ihren frommen Ehemann mit einem Zauberer betrogen haben. Um ihr Stelldichein auf dem Aletschgletscher einzuhalten, verwandelten sich die Liebenden in Raben. In Erinnerung an die alten Zeiten findet auf der Belalp seit 35 Jahren ein ungewöhnliches Skirennen für Gross und Klein statt, an dem rund 1500 als Hexen und Hexer verkleidete Personen teilnehmen.
Das Fröschlein mit dem roten Halsband (Jura)
Ein kleiner Bub verzichtet darauf, zur Schule zu gehen, um seiner armen und lahmen Mutter zu helfen. Eines Tages stösst er beim Holzsammeln auf ein zierliches Fröschlein mit einem roten Halsband. Das Fröschlein ist entzückt, den Jungen zu sehen, und hüpft vor Freude um ihn herum. Als das Fröschlein von einem Vogel bedroht wird, nimmt er es mit nach Hause. Es darf sich beim Essen sogar neben ihn auf seinen Stuhl setzen. Das Fröschlein belohnt seine Gastgeber und verwandelt sich schliesslich in eine wunderschöne junge Frau, die der Junge heiraten wird. («Wer arm, aber guten Herzens ist, wird am Ende belohnt: Die Geschichte ist klassisch, sie wird aber erfrischend fröhlich erzählt», freut sich Katharina Morello.)
Der Bär und der Missionar (St. Gallen)
Dass die Schweiz in früherer Zeit von Bären bevölkert war, geht aus verschiedenen Geschichten hervor, die sich um das Tier drehen. Seit dem 7. Jahrhundert geht die Legende um, dass der irische Missionar Gallus eines Nachts von einem Bären überrascht wurde. Über das, was nachher geschah, existieren verschiedene Versionen. Laut einer soll der Mönch dem hungrigen Bären ein Brot gegeben haben. Als Dank soll ihm dieser geholfen haben, eine Hütte zu bauen, an deren Stelle später das Kloster St. Gallen entstand. Laut einer anderen Version soll der Bär auf Geheiss des Mönchs Holz für das Feuer gesucht und zum Lohn Brot erhalten haben mit dem Gebot, nie mehr zurückzukehren. Auf jeden Fall ist die Stadt mit dem Bären verbunden, der ihr Wappen ziert.
Der Riese Cervin (Wallis)
Wo Berge sind, muss es Riesen gegeben haben. So hat Gargantua, von François Rabelais auf immer verewigt, auf seinen Wegen bleibende Spuren in der Landschaft hinterlassen. So heisst es zum Beispiel, der Hügel von Monthey (VS) sei aus Erde entstanden, die er aus seinem Tragkorb fallen liess. Auf seinen Wanderungen war der Riese Cervin sein Begleiter. Unter dessen Gewicht brach das Bergmassiv ein, so dass nur der Teil zwischen seinen Beinen übrig blieb: eine Felspyramide von 4478 Metern Höhe, einer der meist fotografierten Berge der Welt und ein Wahrzeichen der Schweiz – das Matterhorn.
Heidi
Das kleine Mädchen aus den Bergen, das sogar in Japan legendär ist, darf an dieser Stelle nicht fehlen. Die Geschichte von Heidi erschien erstmals 1879 und 1881 in zwei Bänden, erzählt von der Autorin Johanna Spyri (1827–1901). Das Waisenkind Heidi wird seinem mürrischen und eigenbrötlerischen Grossvater anvertraut und verbringt unbeschwerte Tage auf der Alp mit den Ziegen und seinem Freund Peter, bevor es zu einem gelähmten Mädchen nach Frankfurt gebracht wird. Heidis Lebensfreude und das Plädoyer für ein einfaches Leben, bei dem das Heim und die Natur im Zentrum stehen, lassen das Werk zu einem Bestseller werden, der in Dutzende von Sprachen übersetzt wurde. Im Laufe der Zeit wurden die belehrenden und religiösen Aspekte der Geschichte weggelassen, die immer wieder für Kino, Theater und Fernsehen adaptiert wird. 1974 ruft die Anime-Serie «Arupusu no shôjo Haiji» (Alpenmädchen Heidi), unter Mitwirkung von Hayao Miyazaki am Drehbuch, in Japan eine Sensation hervor und lässt Heidi endgültig zu einer Legende werden, zum Symbol für das verlorene Paradies. Noch heute besuchen viele Gäste aus Japan das Heididorf in Maienfeld (GR).
Die schönsten Schweizer Sagen und Märchen, Doppel-CD, im jeweiligen Dialekt erzählt (32 Titel, 2h25)