Nicolas de Flüe

Der Heilige Niklaus von Flüe – ein Schweizer Mythos mit realem Hintergrund

In der Ehrengalerie der Schweiz wäre er zweifellos weit vorne platziert. Bruder Klaus, Niklaus von Flüe oder Nikolaus von der Flühe, war und ist eine sagenumwobene Figur der Schweizer Geschichte. Als Friedensstifter wird er bis heute weit über die Grenzen der Schweiz hinaus verehrt. Ein Porträt.

Zugegeben, er ist weniger bekannt als Wilhelm Tell und Heidi. Doch im Vergleich zu den beiden Stars der Schweizer Ehrengalerie weist er einen grossen Vorzug auf: Es gab ihn wirklich. Mehr noch, sein Leben ist gut dokumentiert, trotz der sechs Jahrhunderte, die uns von seiner bewegten Zeit (Hundertjähriger Krieg, Burgunderkriege) trennen, und trotz der Abgeschiedenheit seiner Wirkungsstätte im ländlichen Innerschweizer Kanton Obwalden.

Nicolas de Flüe

Schutzpatron des Friedens

Roland Gröbli, Autor eines Fachbuchs über Bruder Klaus (Die Sehnsucht nach dem 'einig Wesen', Hrsg. Rex Buch) bestätigt diese Fülle an Quellen: «Es gibt Briefe, Berichte von Besuchern und Zeitgenossen, und sogar Bücher. Das erste Buch, in dem Niklaus von Flüe erwähnt wird, wurde nur ein Jahr nach seinem Tod in Augsburg gedruckt. So können wir uns ein klares Bild davon machen, wer dieser Mann war, wobei zu berücksichtigen ist, dass die Menschen vor mehr als fünfhundert Jahren ganz anders dachten und fühlten als wir.»

Wer also war dieser prominente Innerschweizer und was hat er getan, dass bis heute Tausende zu seiner Klause pilgern und er als Schutzpatron der Schweiz und als Friedensheiliger weltweit verehrt wird? Um das herauszufinden, muss man ins 15. Jahrhundert zurückgehen, ins ausklingende Mittelalter, das berühmte Quattrocento, das Europa mit der Erfindung des Buchdrucks, der Reformation, der Reconquista und der Entdeckung Amerikas für mehr als vier Jahrhunderte zum Mittelpunkt der Welt machen sollte.

Statue de Nicolas de Flüe
Statue von Niklaus von Flüe in Boncourt, im Kanton Jura

Mit 50 die spirituelle Krise

Niklaus von Flüe wurde 1417 im kleinen Dorf Flüeli, in der Nähe der Ortschaft Sachseln, in eine wohlhabende Bauernfamilie geboren. Er brachte es zu Ruhm und Ansehen und amtete unter anderem als Richter. Er verbrachte aber auch Jahre im Kriegsdienst der noch jungen Eidgenossenschaft der acht Orte, die mit ihrer Unabhängigkeit, ihrer demokratischen Organisation und ihren anhaltenden militärischen Erfolgen die Grossmächte rundum irritierte und provozierte.

Aus Berichten von Zeitgenossen ist überliefert, Klaus sei bereits als Knabe anders gewesen als andere: «Er fastete zwei Tage in der Woche und ass lediglich etwas trockenes Brot und getrocknete Birnen», erzählt Philippe Baud, ehemaliger Seelsorger an der ETH Lausanne, der zwei Bücher über den heiligen Niklaus von Flüe geschrieben hat. Im Alter von 50 Jahren erlitt er eine spirituelle Krise. Er bat seine Frau und seine erwachsenen Söhne um Erlaubnis, das Haus verlassen zu dürfen und Einsiedler zu werden. Dorothea und die Kinder erteilten ihr Einverständnis. Er wanderte zunächst Richtung Hochrhein, wo er sich von der Welt zurückziehen wollte. Dort riet ihm der Legende nach ein Bauer, er solle wieder heimgehen zu den Seinen und daselbst Gott dienen. So kam es, dass sich der künftige Heilige in der Ranftschlucht niederliess, nur wenige Minuten vom Haus der Familie entfernt, das er zwanzig Jahre früher eigenhändig gebaut hatte. Als ob er die relative Bequemlichkeit dieser Nähe wettmachen wollte, beschloss er, fortan zu fasten und gänzlich auf Nahrung und Wasser zu verzichten. Die Kunde von seiner extremen Askese beeindruckte die Menschen seiner Zeit stark und trug zweifellos massgeblich zu seinem Ruhm bei. 

Nicolas de Flüe maison
Nikolaus von Flüe hatte das Haus selbst gebaut, in das er mit seiner Frau nach der Heirat einzog und in dem sie zehn Kinder bekamen. Das Haus ist sehr gut erhalten, ebenso wie das Haus, in dem er geboren wurde.

Ohne ihn hätte es die Schweiz vielleicht nicht gegeben

Der Nachwelt in bleibender Erinnerung geblieben ist der Einsiedler und Analphabet (Lesen und Schreiben war damals ein Privileg des Klerus) allerdings weniger wegen seiner Abstinenz als wegen seiner weisen Ratschläge, von denen der berühmteste vielleicht den Zerfall der Schweiz verhinderte. Im Jahr 1481 herrschte nach dem Sieg über die Burgunder aufgrund der ungleichen Aufteilung der Kriegsbeute Streit zwischen den Acht Alten Orten. Den vier Stadtorten standen die vier Landorte gegenüber. Letztere wehrten sich gegen die Aufnahme Freiburgs und Solothurns in den Bund. Um Rat gefragt, liess der Einsiedler eine Botschaft übermitteln, die zu einer fast wundersamen Einigung führte. Auch der Kaiser von Österreich, der Herzog von Mailand und andere europäische Mächtige schickten Boten nach Obwalden. In einer Welt im Umbruch, zwischen Mittelalter und Moderne, dürfte der dem Irdischen entrückte Bruder Klaus manchem als letzte mögliche Zuflucht erschienen sein. Die Schweiz hatte mit ihm ihren Buddha, ihren Dalai Lama, ihren Gandhi.

«Seiner Berufung bis ans Ende gefolgt»

Verkörperte Niklaus von Flüe im Grunde eine Schweizer Haltung? «Ja, absolut», sagt Roland Gröbli überzeugt. «Jeder Mensch wird von seiner Umgebung beeinflusst, und jeder Mensch beeinflusst im Gegenzug seine Umgebung. Niklaus von Flüe war da keine Ausnahme. Es stellt sich also die Frage, ob das Stanser Verkommnis – die Einigung anlässlich der Tagsatzung in Stans – in erster Linie ein typisch schweizerischer Kompromiss war oder ob seine Vermittlung tatsächlich eine entscheidende Rolle spielte?» Für Philippe Baud steht fest, dass dieser seinen Erfolg weder gewollt noch vorausgesehen hatte. «Bei seinem Rückzug als Eremit erwartete Niklaus von Flüe alles andere, als dass er zu Lebzeiten und nach seinem Tod all diese Pilger anziehen würde. Die Menschen im Tal versuchten, ihn vor diesen Eindringlingen zu schützen. Für mich ist dieser Mann wichtig, nicht wegen seiner Worte, sondern wegen seiner Einstellung: Er ist seiner Berufung bis ans Ende gefolgt.»

Museum Bruder Klaus Sachseln
Das Museum Bruder Klaus Sachseln ist ganz dem Niklaus von Flüe gewidmet und befindet sich in einem der schönsten Bürgerhäuser des Kantons. www.museumbruderklaus.ch


Dieser Artikel von Philippe Clot erschien ursprünglich im Januar 2017 in der Westschweizer Zeitschrift «L’Illustré»