Andri Ragettli

Freestyle-Skifahrer Andri Ragettli im «Homeoffice»

Der Schweizer Freestyle-Champion Andri Ragettli ist fast berühmter für seine verrückten Hindernisläufe in der Turnhalle als für seine Weltcup-Siege. Sein neuestes Parcoursvideo drehte er daheim, wie es sich in diesen Zeiten des Zuhausebleibens gehört.

Gibt es eine Schweizer Region, die mehr zur Erkundung der grossen, weiten Natur einlädt als das Graubünden? Andri Ragettli ist im Bergdorf Flims aufgewachsen: 2600 Einwohnerinnen und Einwohner, 1081 Meter über Meer und ebenso viele Möglichkeiten, die Natur zu erleben. Skifahren lernte er im nahen Laax mit seinen 220 Pistenkilometern. Nun hat sich der 21-jährige Freeskier in seinen eigenen vier Wänden einen Namen weit über die umliegenden Berge hinaus gemacht.

Andri Ragettli

Ragettli postete ein Video, das ihn bei akrobatischen Stunts über Küchenmöbel, Trampoline, Stühle und Fenstersimse zeigt. Nur folgerichtig in einer Zeit, in der die ganze Welt das Leben zu Hause zwischen Telearbeit, Online-Apéros und Wohnzimmerfitness neu erfindet und sich Fussballer beim Jonglieren mit WC-Rollen filmen. Der Flimser beendet seinen Parcours mit einem gekonnten Salto und desinfiziert sich die Hände mit hydroalkoholischem Gel.

Die Message ist klar: Bleibt zu Hause (und habt so viel Spass wie möglich). «In diesen Zeiten, die natürlich für uns alle eine grosse Veränderung bedeuten, muss man kreativ sein», findet Ragettli. «Wir können die Zeit nutzen, um Neues auszuprobieren, und gleichzeitig zur Bewältigung der Coronakrise beitragen.» Der Flimser lässt es nicht bei schönen Worten bewenden: Pro Like in den sozialen Netzwerken will er einen Rappen für die Bekämpfung des Virus spenden (aus seiner eigenen Tasche: «Ich habe nicht mit meinen Sponsoren gesprochen»). Und Likes sammeln, das kann er so gut wie kaum ein anderer Schweizer Sportler.

 

Globale Ikone

Andri Ragettli ist in erster Linie ein Freeski-Wunderkind. Seit seinem zehnten Lebensjahr zeigt er spektakuläre Tricks an Wettkämpfen. Zwei Tage nach seinem 15. Geburtstag gab er sein Weltcup-Debüt, und zwei Jahre später holte er die Kristallkugel im Slopestyle zum ersten Mal. Dabei zeigte er mehrere Sprünge, die vor ihm noch keiner geschafft hatte. Das einzige, was ihm jetzt noch fehlt, ist eine Olympiamedaille. Ragettli hat aber auch schnell begriffen, dass es nicht ausreicht, in den Snowparks zu glänzen, um eine «Sportlegende» zu werden, wie es sein erklärtes Ziel ist. Es braucht auch eine internationale Fangemeinde. Deshalb setzt er auf die sozialen Netzwerke, wo er es zum Internetphänomen brachte.
Den Anfang machte 2016 ein Video, das ihn beim «Training» in der Turnhalle, einem Parcours mit Gleichgewichtsübungen und Sprüngen, zeigte. «Wir haben diesen coolen Parcours in der Schule gemacht und gefilmt. Ich habe ihn dann ins Internet gestellt, wo er zum viralen Hit wurde», erklärt Ragettli. Der Clip wurde über 40 Millionen Mal angesehen. Dass das Video auf mehreren bekannten Facebook-Seiten geteilt wurde, half natürlich bei der Verbreitung.
2017 folgte ein zweites Video im Vorfeld der Olympischen Spiele in Pyeongchang, das ebenfalls viral ging: 80 Millionen Klicks und Interviews auf der ganzen Welt. Endgültig bekannt wurde Ragettli nach dem Tweet von Real Madrid, dessen Trikot er bei seinem Geniestreich getragen hatte. «Ja, das war Teil des Plans», gibt er heute zu.
Bevor er seinen «Stay at home»-Parcours filmte, stellte er noch zwei weitere Hindernisläufe ins Netz, der eine schwieriger als der andere. Jedes Video löste einen Wow-Effekt aus und war ein Grosserfolg im Internet. 

Ich glaube, diese Videos haben mir geholfen, meine Marke aufzubauen und mich allgemein in der Welt des Sports bekannt zu machen», sagt Ragettli. «Dieses Mal teilte Stan Wawrinka mein Video, und Novak Djokovic, Bastian Baker und viele andere reagierten darauf. Das ist sehr hilfreich für Athleten wie mich, deren Sportart im Fernsehen nur begrenzt sichtbar ist.

Gutes Training

Zu Beginn war vielen nicht klar, ob die akrobatischen Parcours zu Ragettlis Training gehörten. Heute macht er keinen Hehl daraus, dass die Videos Teil seiner Marketingstrategie sind, obwohl er die damit verbundene sportliche Leistung keineswegs herunterspielt. Er sagt, er habe «keine Angst vor Verletzungen», weil er sich seiner Grenzen und der möglichen Gefahren sehr wohl bewusst sei. Doch nur schon die Ausführung eines Parcours, der zum Teil mehrere Minuten dauert, ist harte Arbeit.
Für den «sehr spontanen und weniger schwierigen» Hindernisparcours zu Hause benötigte er lediglich dreissig Versuche, für andere über hundert. 

Normalerweise brauche ich einen Tag, um ein Video zu drehen. Nach dem sehr schwierigen vierten Parcours war ich extrem müde, das war also schon ein rechtes Training!

 

Ursprünglich veröffentlicht in Le Temps, März 2020 – Lionel Pittet