Friedrich Dürrenmatt an seinem Schreibtisch in Neuchâtel, um 1960. Foto: Monique Jacot.

Friedrich Dürrenmatt – aus dem Emmental an den Broadway

Am 5. Januar 2021 jährt sich zum 100. Mal der Geburtstag eines der erfolgreichsten Schweizer Autoren. Friedrich Dürrenmatt erreichte mit seinen von schwarzem Humor geprägten Theaterstücken und Kriminalgeschichten ein Millionenpublikum; er wurde und wird auf der ganzen Welt gelesen und gespielt. Für die Schweiz war er eine wichtige moralische Autorität und kritische Instanz. Er hinterliess auch ein eindrückliches Bildwerk, das im Centre Dürrenmatt Neuchâtel in attraktiver Umgebung für das Publikum ausgestellt wird.

Zuhause im Emmental und im Kosmos

Am 5. Januar 1921 wurde der Schweizer Dramatiker und Erzähler Friedrich Dürrenmatt in Konolfingen im Emmental als Sohn des Dorfpfarrers geboren. Fritz wuchs mit der Dorfjugend auf, doch sein Blick schweifte schon früh in die Ferne. Nicht nur den Eisenbahnzügen schaute der Junge am Bahnhof nach und träumte von der weiten Welt; er kannte auch die griechischen Mythen, und sein Blick schweifte in die Höhe mit Hilfe eines Teleskops, war er doch schon als Zehnjähriger fasziniert von der Astronomie und zeichnete Karten der Sternkonstellationen.

Friedrich Dürrenmatt, Die Physiker II (Weltraumpsalm), 1973, Collage und Mischtechnik auf Papier, 102,5 x 71 cm, Sammlung Centre Dürrenmatt Neuchâtel, © CDN / Schweizerische Eidgenossenschaft

Soll ich Malen oder Schreiben?

1935 in die nahe Stadt Bern umgezogen, war er zwischen Malerei und Schriftstellerei hin und her gerissen. So schrieb er am 27. September 1941 nach bestandener Maturitätsprüfung (Abitur) seinem Vater: «Dass ich ein Künstler werden kann und muss, weiss und fühle ich. Das Problem liegt ja bei mir ganz anders. Soll ich malen oder schreiben. Es drängt mich zu beidem.» Obwohl er sich fünf Jahre später für die Schriftstellerei entschied und ein Philosophiestudium ohne Abschluss abbrach, zeichnete und malte er sein Leben lang weiter. Bei seinem Tod lag ein eindrückliches, der Öffentlichkeit kaum bekanntes Bildwerk vor, das heute an Dürrenmatts langjährigen Wohnsitz hoch über der Stadt Neuchâtel im Centre Dürrenmatt Neuchâtel in einem Museumsbau des Schweizer Architekten Mario Botta ausgestellt und im Dialog mit seinem literarische Werk vermittelt wird. 

Centre Dürrenmatt Neuchâtel, Foto: Schweizerische Nationalbibliothek
Centre Dürrenmatt Neuchâtel, Foto: Schweizerische Nationalbibliothek

Von Zürich an den Broadway und nach Hollywood: Dürrenmatts Welttheater

Doch internationale Bekanntheit erreichte Dürrenmatt mit seinem literarischen Werk: Der grosse Durchbruch gelang ihm 1956 mit der am Schauspielhaus Zürich uraufgeführten «tragischen Komödie» Der Besuch der alten Dame, die innerhalb von wenigen Jahren den Weg auf die grossen Bühnen von München, Berlin, Paris, Warschau, Prag, Stockholm, New York, Mailand, Moskau, Buenos Aires, Tokio und Peking erreichte und auch mehrfach zum Filmstoff wurde, unter anderem 1966 als The Visit mit Ingrid Bergman und Anthony Quinn in den Hauptrollen. Wenige Jahre später wiederholte Dürrenmatt seinen Erfolg mit der Komödie Die Physiker, die im Kontext des atomaren Rüstungswettlaufs im Kalten Krieg zu einem vielzitierten Dauererfolg wurde.

Philosophische Kriminalromane

Doch nicht nur mit Theaterstücken, auch mit seinen abgründigen Kriminalromanen war Friedrich Dürrenmatt ausserordentlich erfolgreich. Sie wurden in Millionenauflagen verkauft und ebenfalls mehrfach verfilmt, unter vielen anderen 2003 Das Versprechen (The Pledge) von Sean Penn, mit Jack Nicholson in der Hauptrolle. So wurde der Emmentaler Pfarrerssohn, der stets Wert auf seine eigenwillige, von der Berner Mundart imprägnierte Sprache legte, zu einem weltweit rezipierten Erfolgsautor.

Friedrich Dürrenmatt, Selbstporträt, 1982, Gouache auf Karton, 102 x 72 cm, Sammlung Centre Dürrenmatt Neuchâtel, © CDN / Schweizerische Eidgenossenschaft
Friedrich Dürrenmatt, Selbstporträt, 1982, Gouache auf Karton, 102 x 72 cm, Sammlung Centre Dürrenmatt Neuchâtel, © CDN / Schweizerische Eidgenossenschaft

Eine kritische Instanz im Zeichen der Meinungsfreiheit: Dürrenmatt und die Schweiz

«Ich bin gerne Schweizer» und «Der Autor ist nicht Kommunist, sondern Berner» - mit derartigen Bonmots bekannte sich Dürrenmatt immer wieder zu seiner Herkunft. Doch war er kein unkritischer Patriot. Die Bekenntnisse zur Schweiz versah Dürrenmatt stets mit Stacheln: Er gehörte zu den ersten, die in den Nachkriegsjahren die Flüchtlingspolitik der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs anprangerten, und noch kurz vor seinem Tod stellte er 1990 vor versammelter politischer und kultureller Elite in einer Preisrede für den tschechoslowakischen Staatspräsidenten Václav Havel die Schweiz in einem grotesken Gleichnis als ein Gefängnis dar, in dem jeder zugleich Gefangener und Wärter sei. Damit reagierte er auf die publik gewordene Tatsache, dass der Schweizer Inland-Geheimdienst im Zeichen des Kalten Krieges Akten über mehr als ein Zehntel der erwachsenen Schweizer Bevölkerung angelegt hatte.

Friedrich Dürrenmatt, Labyrinth I: Der entwürdigte Minotaurus, 1962, Gouache auf Karton, 72 x 51 cm, Sammlung Centre Dürrenmatt Neuchâtel, © CDN / Schweizerische Eidgenossenschaft
Friedrich Dürrenmatt, Labyrinth I: Der entwürdigte Minotaurus, 1962, Gouache auf Karton, 72 x 51 cm, Sammlung Centre Dürrenmatt Neuchâtel, © CDN / Schweizerische Eidgenossenschaft

Anstoss zur Gründung des Schweizerische Literaturarchivs

Doch seine Kritik, die für ihn eine selbstverständliche Bürgerpflicht und ein Bürgerrecht war, verband Dürrenmatt immer wieder mit konstruktiven kulturpolitischen Taten. Die nachhaltigste: Auf seine Initiative und die Schenkung seines Nachlasses an die Schweizerische Eidgenossenschaft hin wurde 1991 das Schweizerische Literaturarchiv gegründet, das – als Abteilung der Schweizerischen Nationalbibliothek – heute die Nachlässe von über 400 Autorinnen und Autoren aus der Schweiz birgt. 

Die Schweizerische Nationalbibliothek, das Schweizerische Literaturarchiv und das Centre Dürrenmatt Neuchâtel würdigen den 100. Geburtstag von Friedrich Dürrenmatt mit einer Vielfalt von Aktivitäten. 

100 Jahre

Aktualität: Überzeitliche Mythen und ein visionärer Blick 

Dürrenmatt ist seit 30 Jahren tot, doch hat sein Schreiben und Denken nichts von seiner Brisanz und Aktualität und seiner erzählerischen Verführungskraft verloren. Zum einen sind seine Geschichten moderne Mythen, die nicht nur in Westeuropa, sondern auch in Senegal oder Singapur sehr gut verstanden werden. Sie handeln von der Verführungskraft des Geldes oder vom Scheitern unserer Pläne an der Unberechenbarkeit der Welt, aber auch von der Widerstandskraft des Individuums. Zugleich hat Dürrenmatt mit Weitsicht Probleme wie den religiös-politischen Fundamentalismus, die künstliche Intelligenz oder die Risiken der Technik vorweggenommen, gemäss seiner Diagnose: «Was einmal gedacht wurde, kann nicht mehr zurückgenommen werden. »
 

Cover-Bild: Friedrich Dürrenmatt an seinem Schreibtisch in Neuchâtel, um 1960. Foto: Monique Jacot.

Portrait-Bild: Friedrich Dürrenmatt, Die Physiker II (Weltraumpsalm), 1973, Collage und Mischtechnik auf Papier, 102,5 x 71 cm, Sammlung Centre Dürrenmatt Neuchâtel, © CDN / Schweizerische Eidgenossenschaft