Auf Rätoromanisch: Gesichter und Geschichten
Bun di, bund de, bien di, bùn gi, allegra! Diese fünf Möglichkeiten gibt es auf Rätoromanisch für «Guten Morgen». Die Rede ist hier von der vierten Landessprache der Schweiz. Für einige ist sie mit einer Erinnerung verbunden, für andere ist der Klang ganz neu. Es gehört untrennbar zur Identität der Schweiz. Sicher, Rätoromanisch ist eine Minderheitensprache, aber eine, die sich Gehör verschafft: Auf Theaterbühnen, in weltweit populären Rap-Rhythmen, in den Nachrichten, in den Schulen und im Parlament. Sogar von Madagaskar bis Peking sind seine Klänge zu vernehmen.
Wenn wir von der berühmten Mehrsprachigkeit der Schweiz reden, kommen wir nicht ohne einen kurzen Überblick aus. Er beginnt mit einem Fixpunkt: «Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.» So steht es in Artikel 4 der Schweizer Bundesverfassung. Dass Rätoromanisch den neuesten amtlichen Zahlen zufolge von 0,5 % der Bevölkerung gesprochen wird, ist unerheblich. Für die Landessprachen der Schweiz gilt keine Rangordnung. Minderheiten müssen jedoch geschützt, erhalten und häufiger konsultiert werden. Es reicht, ein paar Sprecherinnen und Sprecher des Rätoromanischen zu treffen, um zu erkennen, dass wir es hier mit einer Sprache und einer Kultur zu tun haben, die sich Gehör verschaffen kann, auch im Ausland.
Vom Kanton Graubünden bis zur restlichen Schweiz
Jeden Tag öffnet Mario Caviezel das Tor seines Gymnasiums, das eingebettet ist in die hügelige Landschaft des Kantons Zug. Am Morgen betritt er das Klassenzimmer und wünscht seinen Schülerinnen und Schülern zu Beginn des deutschsprachigen Geschichtsunterrichts einen guten Morgen auf Vallader, einem der fünf rätoromanischen Idiome neben Puter, Sursilvan, Sutsilvan und Surmiran. Das Rätoromanische ist nämlich keine Einheitssprache, sondern wird in fünf Idiome unterteilt. Diese Idiome werden gesprochen und geschrieben, haben eine lange Literaturtradition und eigene Grammatiken und Wörterbücher. Verstehen die Personen rätoromanischer Sprache einander? Durchaus, versichert uns Mario, abgesehen von einigen Begriffen, die unterschiedlich ausfallen können und für die man sein Gehör trainieren muss. In seinem Fall müssen wir natürlich auch auf die Geografie der Sprache eingehen: Sein Idiom wird insbesondere im Unterengadin, im Kanton Graubünden, gesprochen. Tatsächlich ist im einzigen dreisprachigen Kanton der Schweiz das Rätoromanische sehr präsent, vor allem in der Surselva und im Engadin. So oft er kann, unternimmt Mario mit seinen Klassen eine Studienreise, damit sie mehr über die rätoromanische Kultur erfahren, sich mit ihren Wurzeln vertraut machen und etwas davon auch in die Deutschschweiz zurückbringen können. Wie viele Sprachen sprechen denn nun diese Rätoromaninnen und Rätoromanen?
Eine mehrsprachige Bühne
«In der Primarschule wurde Rätoromanisch gesprochen. Ab der vierten Klasse kam Deutsch hinzu. In der Sekundarstufe I haben wir mit Französischunterricht, in der Sekundarstufe II mit weiteren Fremdsprachen wie Englisch begonnen. Allgemein fand der Unterricht in der Primarstufe und der Sekundarstufe I auf Rätoromanisch statt, in meinem Fall auf Vallader, aber die Lehrmittel waren auf Deutsch», berichtet Annina Sedláček, von Beruf Schauspielerin. Die rätoromanischsprachige Bevölkerung zeichnet sich durch Zweisprachigkeit aus: Alle beherrschen mindestens eine weitere Landessprache perfekt. Annina bringt das Rätoromanische auf die Theaterbühne. Wenn sie ihre Neuinterpretation von Andersens berühmtem Märchen Der fliegende Koffer in mehrsprachigem Gewand darbietet, lacht das Publikum über den Klang des Rätoromanischen, der dank der kommunikativen Kraft der Kunst immer vertrauter wird. Und wenn auch wir diesen Koffer besteigen, fliegen wir zurück ins Jahr 15 v. Chr., als die Römer die Provinz Rätien (die auch dem heutigen Gebiet Graubündens entspricht) eroberten und aus der von Soldaten und Siedlern gesprochenen lateinischen Mundart die heutige rätoromanische Sprache hervorgeht.
Tradition und Innovation im Rhythmus des Rap
Rätoromanisch ist eine romanische Sprache, die grosse Ähnlichkeit mit Italienisch, Französisch, Katalanisch, Portugiesisch und auch Rumänisch hat. Gino Clavuot alias Snook hat die Mehrsprachigkeit zu einer Kunstform gemacht. «Ich überlege mir nicht vorher, in welcher Sprache ich meine Songs schreibe, sondern gehe eher intuitiv vor. Was ich aber will, ist, eine Brücke zwischen verschiedenen Sprachen und Kulturen zu schlagen», erklärt er. Und Rappen auf Rätoromanisch ist gewissermassen auch ein Brückenschlag zwischen zwei Welten, zwischen Tradition und Innovation. «Ich entscheide mich dafür, meinen Rap auf Rätoromanisch zu machen, weil ich mich mit dieser Sprache identifiziere. Ausserdem können junge Leute so entdecken, dass Rätoromanisch wirklich cool ist... eine der schönsten Sprachen der Welt!» Snook will mehrere Generationen gleichzeitig ansprechen: Wir alle müssen als Botschafterinnen und Botschafter dieser so reichen Sprache auftreten, vor allem Jugendliche, die ihr in ihrem täglichen Leben mehr Geltung verschaffen können, indem sie sie sprechen und – warum nicht – auch singen.
Nachrichten in den fünf rätoromanischen Idiomen
Fabia Caduff ist Korrespondentin für die «Radiotelevisiun Svizra Rumantscha» in Bern, dem Regierungssitz der Schweiz. Welches rätoromanische Idiom wird im politischen Geschehen der Schweiz gesprochen? Nachdem das Rätoromanische 1938 per Volksabstimmung zur Landessprache erhoben wurde, ergab sich die Notwendigkeit einer normierten Schriftsprache. 1982 wurde unter dem Dach der «Lia Rumantscha» (Verein zur Förderung der rätoromanischen Sprache) das «Rumantsch Grischun» eingeführt, das heute vom Bundesrat zum Beispiel für Bekanntmachungen zu Abstimmungsunterlagen verwendet wird. Auch Fabia verwendet «Rumantsch Grischun» für ihre schriftlichen Arbeitsrapporte, für ihre Radioreportagen dagegen ihr eigenes Idiom, das zahlreiche für ihr Heimatdorf Zernez typische Nuancen aufweist. Dass sie ihre Muttersprache am Arbeitsplatz sprechen können, ist für Rätoromanischsprachige durchaus nicht selbstverständlich. Nach Ansicht von Fabia ist eine stärkere Sensibilisierung für diese Sprache und Kultur, auch in der Schweiz, eine wichtige Zielsetzung. «Wenn jemand erfährt, dass ich Rätoromanisch spreche, muss ich erklären, dass es eine Sprache ist, die im Alltag gesprochen und gelebt wird. Bei jemandem, der zum Beispiel Deutsch spricht, ist das nicht der Fall. Andere Länder, andere Sprachen: Und dazu gehört eine faszinierende Wirklichkeit, die geprägt ist von Traditionen und Kunst. «Im Engadin etwa wird der Chalandamarz begangen, ein Fest, das viele aus der Kindergeschichte Schellen-Ursli von Selina Chönz kennen. In der Surselva beispielsweise gibt es diesen Brauch nicht, dafür hat dort der Karneval eine grosse Bedeutung. Neben unseren Traditionen haben wir auch weltbekannte Persönlichkeiten wie den Künstler Not Vital und etablierte Schriftsteller wie Romana Ganzoni, Arno Camenisch und viele andere vorzuweisen», so Fabia Caduff.
Rätoromanisch im Ausland
Das diplomatische Korps des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA) besteht aus Vertreterinnen und Vertretern aller Sprachregionen. In Madagaskar etwa treffen wir auf Botschafter Chasper Sarott. «Nach elf Monaten in Antananarivo machte ich Bekanntschaft mit jemandem, der gerade Rätoromanisch lernte: Wie schön, dass ich einmal Gelegenheit für ein Gespräch in meiner Muttersprache hatte! Meine Visitenkarte ist zwangsläufig in allen vier Landessprachen der Schweiz gedruckt: Das ist eine Besonderheit, aber auch eine Möglichkeit, die Menschen mit der rätoromanischen Kultur vertraut zu machen, die davon oft zum ersten Mal hören», erklärt der Botschafter. Auch in China stösst das Rätoromanische auf Interesse, sogar im Hochschulbereich. Die Beijing Foreign Studies University (BFSU), Chinas führende Fremdsprachenuniversität, erwägt derzeit, ihre bereits lange Liste der unterrichteten Sprachen um Rätoromanisch zu erweitern. Und wer jetzt Lust bekommt, eines der rätoromanischen Idiome zu lernen, egal wo auf der Welt...ben vegni, herzlich willkommen!
Cover: Rätoromanisch, die vierte Landessprache der Schweiz, wird von rund 60 000 Personen gesprochen und hat ein eigenes öffentlich-rechtliches Medium, die «Radiotelevisiun Svizra Rumantscha». © Keystone I Gaetan Bally
Lead: Am 20. Februar 1938 wurde das Rätoromanische nach einer Volksabstimmung offiziell zur Landessprache der Schweiz erklärt © Keystone I Arno Balzarini