Das Geheimnis der «Faiseurs de secret»
In der Westschweiz suchen viele Menschen sogenannte Faiseurs de secret auf, Heiltätige, die mit altüberlieferten Segensformeln Leiden lindern und heilen. Auch wenn diese Praxis keiner wissenschaftlichen Erklärung stand hält, sind viele Menschen von ihrer Wirksamkeit überzeugt, auch in einigen Krankenhäusern. Eine Reise ins Herz einer lebendigen Tradition in der Schweiz.
Und wenn es eine Formel gäbe, um Krankheiten, Verletzungen und psychische Störungen aus der Ferne – durch einen Telefonanruf, ein SMS oder ein E-Mail – zu heilen oder zu lindern? Es gibt solche Praktiken – in der Welt der Gebetsheilenden.
Diese Menschen haben die Gabe, durch Beten – in Form von Heilsprüchen und Segensformeln – Krankheiten und Verletzungen zu heilen. Die Praxis stammt aus der Volksmedizin, die bisweilen als Gegenpol zur Schulmedizin betrachtet wird. Sie ist die Summe sehr alter empirischer Erkenntnisse, die wissenschaftlich meist nicht zu erklären sind.
In der Westschweiz ist das Gesundbeten im Gegensatz zum übrigen Europa, wo es ähnliche Praktiken gibt, nicht verboten. Es wird auch von der Schulmedizin nicht gänzlich abgelehnt. Sowohl in Heimen wie auch in fast allen Spitälern der Westschweiz liegen Listen mit den Telefonnummern von Heilerinnen und Heilern auf, geordnet nach den Leiden, die sie behandeln können.
Das Geheimnis der Heilsprüche
Der Heilspruch ist eine geheime, kurze Segensformel, meist mit religiösem Gehalt. Sie heilt oder lindert eine Vielzahl von Krankheiten und Verletzungen wie Verbrennungen, Blutungen, Warzen, Verstauchungen, Hauterkrankungen usw. Bei einer Verbrennung beispielsweise sagt der Heiler die Segensformel, während er sich auf die Patientin konzentriert und ab und zu an seinem Körper Kreuze schlägt an der Stelle, wo seine Patientin Verbrennungen aufweist. Diese kurzen Gebete richten sich oft an einen Heiligen (auch an die Dreifaltigkeit und im protestantischen Umfeld an Jesus) – gewöhnlich im Zusammenhang mit dem Martyrium, das er erlitten hat. «Wenn mich jemand anruft, frage ich nach dem Namen, dem Geburtsdatum und dem Leiden. Ich verbinde mich mit der Person, die meine Hilfe braucht, und sage die Gebete und Heilsprüche. Gewöhnlich stellt sich die Wirkung rasch ein. Wenn dies nicht der Fall ist, wiederhole ich die Heilhandlung so oft wie nötig», erklärt ein Gebetsheiler.
In der Regel gibt es für jedes Leiden einen anderen Heilspruch. Es ist am besten, wenn die betroffene Person direkt Kontakt aufnimmt mit der gebetsheilenden Person, ausser es handle sich um ein Tier, ein Kind oder einen Patienten, der nicht kommunizieren kann. Im Spital bittet die Familie manchmal eine Krankenschwester, sie solle eine Heilerin oder einen Heiler beiziehen.
Eine weit verbreitete Praxis
Auch wenn das Gesundbeten in der französisch- und italienischsprachigen Schweiz weiter verbreitet ist als in der Deutschschweiz, wird es in zahlreichen Kantonen praktiziert. Es wird der Naturheilkunde (bzw. der übernatürlichen Heiltätigkeit) zugeordnet, könnte aber auch mit religiösen Bräuchen verwandt sein, obwohl von den Patientinnen und Patienten nicht erwartet wird, dass sie gläubig sind. «Das Vertrauen ist viel wichtiger als der Glaube», erklärt ein Heiler. Die «Heilung» liegt jedoch nicht nur im psychischen Bereich und kann nicht immer durch den Placebo-Effekt erklärt werden, denn es gibt auch Vieh, das so geheilt wurde.
Die Weitergabe dieses Heilwissens ist wichtig. Die Segensformeln sind geschützt, nicht weil dadurch böse Kräfte angerufen würden, sondern einzig und allein, damit die Heilenden ihre Nachfolger selbst bestimmen können. Die Regeln der Weitergabe, die früher sehr streng waren, wurden gelockert, um eine vom Aussterben bedrohte Tradition zu bewahren. Heute besteht nur die Verpflichtung, die Segensformel an jüngere Personen weiterzugeben.
Ein Gebetsheiler erzählt: «Eine Schweizerin, die in Südafrika für ein Hilfswerk arbeitet, hat mich angerufen, um mir von den Kindern zu erzählen, die oft schwere Verbrennungen erleiden, wenn ihre Hütten brennen. Das kommt nicht selten vor in den Armenvierteln, wenn die Kinder allein zu Hause sind. Den Eltern fehlt das Geld für eine medizinische Versorgung ihrer Kinder. Die Frau weiss, dass man grundsätzlich nicht nach dem Heilspruch fragt, aber sie hat mich trotzdem angerufen, um mir die Situation zu schildern und mich zu fragen, ob ich ihr die Formel weitergeben würde. Natürlich war ich einverstanden. Ich habe ihr die Geheimformel am Telefon gegeben, über eine Distanz von Tausenden von Kilometern. Innerhalb weniger Tage rief sie mich wieder an und erzählte mir voller Freude, dass die Behandlung auch bei den afrikanischen Kindern perfekt funktioniert hat. Sie konnte es kaum glauben.»
Heiltätige sind Frauen und Männer, die diese Aktivität neben ihrem Hauptberuf ausüben. Sie tun es mit Hingabe und grossem Engagement und achten dabei streng auf die Einhaltung der Formel. Auch wenn einige eine kleine Aufmerksamkeit oder eine kleine Geldsumme in einem Umschlag als Zeichen des Danks annehmen, wird die Tätigkeit überwiegend unentgeltlich ausgeübt. Die seltenen Versuche, daraus Profit zu ziehen, lösen dann auch immer grosse Empörung aus.
Eine Zusammenarbeit zwischen Schulmedizin und Gebetsheilenden?
In einer Zeit, in der die Wissenschaft dem Unerklärlichen keinen Platz mehr lässt, kann der fehlende wissenschaftliche Beweis die Forschenden dazu verleiten, die Volksheilkunde als Aberglaube oder Scharlatanerie abzutun. Jedoch sind einige Ärztinnen und Ärzte manchmal bereit, mit Heilerinnen und Heilern zusammenzuarbeiten. Einige Onkologen empfehlen beispielsweise ihren Patienten, Heilende aufzusuchen, um die Verbrennungen zu lindern, die durch die Strahlentherapie entstanden sind. Die Heiltätigkeit geschieht jedoch meistens ohne Wissen der Ärzte.
Ein Vater erzählt von seinem verunfallten Sohn: «Mein Sohn hatte einen Autounfall in Deutschland, seine rechte Hand war in einem schlimmen Zustand. Für die Ärzte war eine Amputation unausweichlich. Sie lehnten eine Repatriierung in die Schweiz ab. Die Wunde war infiziert und eine Reise in diesem Zustand zu gefährlich. Meine Frau und ich waren verzweifelt. Eine Nachbarin empfahl uns, mit einer Heilerin aus Genf Kontakt aufzunehmen, die für die wirksame Behandlung von Infektionen einen guten Ruf hatte. Das haben wir gemacht. Einen Tag nach dem Anruf hat sich der Gesundheitszustand unseres Sohnes plötzlich verbessert. Die Ärzte waren überrascht. Es war nicht nur möglich, die Hand zu retten, unser Sohn konnte am nächsten Tag auch zurück in die Schweiz reisen. Im Ärztebericht stand «nicht zu erklärende Verbesserung». Die Rekonvaleszenz und die Rehabilitation dauerten lange, aber heute kann er seine Hand fast normal gebrauchen. Der Behandlungserfolg ist unglaublich, aber auch die Tatsache, dass die Heilerin das Äussere und den Charakter meines Sohnes beschreiben konnte, obwohl sie ihn noch nie gesehen hatte.»
Viele Menschen aus der Westschweiz wenden sich an Menschen mit dieser Gabe. Ein grosser Teil der Bevölkerung ist offen für die Naturheilkunde, um eine schulmedizinische Behandlung zu ergänzen. Die Hilfesuchenden kommen aus allen Altersklassen, Schichten und Berufskategorien und gehören beiden Geschlechtern an. Sie suchen in erster Linie nach Alternativen, die keine Medikamente erfordern. Für sie ist es nicht relevant, wie die Heilung funktioniert. Viele meinen dazu: «Hauptsache es wirkt.»
Weitere Informationen:
Magali Jenny: Guérisseurs, rebouteux et faiseurs de secret en Suisse romande. Avec répertoire d'adresses. Lausanne, 2008
Magali Jenny: Le nouveau guide des guérisseurs de Suisse romande. Portraits et témoignages inédits. Répertoire actualisé de 250 adresses.
Magali Jenny, Riti Sharma: Heilerinnen und Heiler in der Deutschschweiz. Magnetopathen, Gebetsheiler, Einrenker. Lausanne, 2009
Télévision Suisse Romande (Ed.): Mon docteur a «le secret» (DVD-vidéo). Genève, 2004
RTS La Première (Ed.): Marc Giouse: De quoi j'me mêle: Les faiseurs de secret, émission du 07.02.2009