Florence Schelling: Chefin in einer Männerbastion
Der Schlittschuh-Club Bern (SC Bern, SCB), der grösste Club der Schweiz (Budget von 60 Millionen Franken, im Durchschnitt 17 000 Zuschauerinnen und Zuschauer, 16-facher Schweizer Meister), hat zum ersten Mal in der Geschichte des Eishockeys eine Frau zur Sportchefin ernannt. Die 31-jährige Zürcherin war erfolgreiche Stammtorhüterin der Schweizer Nationalmannschaft der Frauen und stellt sich selbstsicher der neuen Herausforderung. Ihre überraschende Nominierung erregte weltweit Aufmerksamkeit.
Normalerweise besuchen rund 17 000 Fans die Spiele des erfolgreichsten Schweizer Eishockeyclubs, was europaweit ein Rekord ist. Die letzte Saison hatte der SCB allerdings total verpatzt und qualifizierte sich nicht für die Playoffs. Diese fanden schliesslich coronabedingt gar nicht statt – die Meisterschaft wurde abgebrochen. Im Oktober 2020 startet die neue Saison, und der SCB hofft, an seine früheren Erfolge anknüpfen zu können. Grösster Star und neue Attraktion des Clubs wird allerdings nicht wie sonst üblich ein Spieler aus dem Ausland sein, sondern vielmehr die neue Sportchefin in der Person der 31-jährigen Zürcherin Florence Schelling, der ehemaligen Torhüterin der Eishockeynationalmannschaft der Frauen. Als absolute Premiere in der Geschichte des internationalen Eishockeys übernimmt in Bern eine Frau diese Schlüsselposition. Sie wird die neuen Spieler auswählen, die Verträge aushandeln und die Geschäftspolitik des Clubs umsetzen.
Als im April 2020 die überraschende Nominierung bekannt gegeben wurde, berichtete die ganze Welt darüber: von Skandinavien bis Nordamerika, wo Eishockey besonders beliebt ist. Florence Schelling lächelt und zeigt sich selbstbewusst: «Ich verstehe die Reaktionen, finde aber, dass es nichts Aussergewöhnliches ist, wenn eine Frau diese Position innehat. Ich sehe es als Aufgabe, für die ich mein Bestes geben werde. Ich bin eine ehrgeizige Person.»
Sie ist sich der Herausforderungen, die auf sie warten, durchaus bewusst. «Ziel ist es, den SCB wieder an die Spitze der Tabelle zu bringen. Natürlich ist der Erwartungsdruck hoch, aber ich werde alles tun, um das Ziel zu erreichen. Wenn ich einen guten Job mache, werden gute Ergebnisse folgen. Ich weiss aber auch, dass es für Ergebnisse Respekt und Anerkennung braucht.»
Einige halten die Ernennung von Florence Schelling für einen Marketingcoup, der das Image des Clubs verbessern soll. Marc Lüthi, CEO des SCB, weist diese Behauptung vehement zurück. «Egal ob Mann oder Frau – was wir suchten, waren Fähigkeiten. Die Zeit war reif, etwas Neues auszuprobieren. Ich brauchte eine frische Persönlichkeit, die eine neue Sichtweise einbringt und sich traut, Missstände anzusprechen. Wir sind überzeugt, dass Florence diese Fähigkeiten besitzt. Wir glauben an sie.» Die Zürcherin zögerte keinen Moment, sich der Herausforderung zu stellen. «Natürlich war ich überrascht, aber ich habe keine Sekunde gezögert. In den Gesprächen spürte ich extrem viel Unterstützung und Vertrauen.»
In einer weitgehend von Männern dominierten Welt ist die Wahl einer Frau in eine solche Position eine Art Bruch oder eine Wende. Klaus Zaugg, Eishockeyexperte und Buchautor, ist begeistert. «In keinem anderen Sport, auch nicht im Fussball, herrscht eine derart ausgeprägte Machokultur wie im Eishockey. Florence Schelling ist jetzt Chefin von Männern. Sie verhandelt mit den Agenten und den Spielern. Nach der gescheiterten letzten Saison des SCB kann sie meiner Meinung nach nur gewinnen.»
Der Freiburger Gil Montandon, ein ehemaliger Star-Stürmer, der mit dem SCB dreimal den Schweizer Meistertitel gewann, teilt diese Begeisterung.
Selbstverständlich ging es bei der Wahl von Florence Schelling auch um Marketing. Sie wird aber für mehr Niveau und Respekt sorgen in einer Welt, in der sich Kerle allzu sehr mit sich selbst beschäftigen.
In der Schweizer Eishockeyliga spielen heute rekordverdächtige 10 Prozent lizenzierte Spielerinnen, und immer mehr Mädchen entscheiden sich für diesen Sport. Die Jurassierin Sarah Forster gehört zu den vier Schweizerinnen, die erfolgreich im Ausland spielen, konkret in Schweden. Sie sieht in der Wahl ihrer ehemaligen Mitspielerin der Nationalmannschaft ein ermutigendes Zeichen dafür, dass alte Denkmuster überwunden werden. «Das zeigt, dass auch Frauen ihren Platz in einer Männerwelt haben, dass sich etwas bewegt und zwar in die richtige Richtung. Und schliesslich wurde Florence nicht von irgendeinem unbedeutenden Club auserkoren, sondern vom SC Bern – und das will etwas heissen!»
Florence Schelling ist sich ihrer Rolle als Botschafterin bewusst. «Frauen-Eishockey macht in etlichen Ländern Fortschritte: USA, Kanada, Russland, Schweden und auch in der Schweiz. Wenn ich meinen Job gut mache und das dem Ansehen der Frauen im Hockeysport hilft, umso besser!»
Der Zürcherin fehlt es nicht an Qualifikationen für die Position. Eishockey kennt sie aus dem Effeff. Im Alter von 16 bis 29 Jahren, das heisst von 2004 bis 2018, war sie die unangefochtene Torhüterin der Schweizer Nationalmannschaft, mit der sie zwei Bronzemedaillen gewann: eine an der Weltmeisterschaft 2012 und eine an den Olympischen Winterspielen von Sotschi, nach einem überwältigenden Sieg gegen Schweden. In Russland wurde sie als beste Torhüterin des Turniers ausgezeichnet. Sie spielte in den besten ausländischen Meisterschaften, in Nordamerika für Boston und Montreal sowie in Schweden. Sie hat ein MBA-Studium absolviert, beherrscht mehrere Sprachen (Deutsch, Italienisch, Englisch und Französisch) und verfügt über allgemein anerkannte Führungsfähigkeiten. Sarah Forster, die mehrere Turniere mit ihr gespielt hat, darunter in Sotschi, kennt sie gut. «Florence lächelt, ist stets besonnen, nie euphorisch und verschafft sich Gehör, ohne ihre Stimme zu erheben. Wenn sie spricht, hört man ihr zu. Sie strahlt eine starke Präsenz aus.» Trotz ihres charmanten Auftretens mangelt es ihr nicht an schnörkelloser Direktheit und ausgeprägtem Selbstbewusstsein.
Ich hatte nie Angst vor der Zukunft, und meine Erfolge waren immer das Ergebnis meiner Anstrengungen.
In einem Interview erzählte Florence Schelling folgende vielsagende Anekdote von der Junioren-Weltmeisterschaft 2019 in der Slowakei, wo sie Trainerin des Schweizer Frauenteams war. «Nach einer schweren Niederlage habe ich ruhig, aber resolut zu den Spielerinnen gesprochen. Meine Assistenztrainer sagten mir danach, das sei der schönste Anschiss gewesen, den die Mädchen je gekriegt hätten.» Und sie fügt hinzu: «Ich mag es nicht, um den heissen Brei herumzureden. Ich stehe immer zu meiner Meinung.»
Es macht ihr keine Angst, sich in einer Männerdomäne durchsetzen zu müssen, denn sie ist sich daran gewöhnt. Für sie ist das nichts Neues. Sie begann das Hockeyspielen mit ihren beiden älteren Brüdern und bestritt alle Juniorentrainings mit jungen Männern, weil es schlicht kein Frauenteam gab. Im Anschluss an ihre Karriere im Ausland spielte sie eine letzte Saison als Torhüterin des Erstliga-Männerteams des EHC Bülach. In den Männerteams der Erwachsenen dürfen Frauen nur als Torhüterinnen spielen.
Ich bewegte mich schon früh in dieser Männerwelt. Ich fühle mich dabei sehr wohl, denn ich bin ja in dieser Welt gross geworden. Ich weiss, wie eine reine Männerwelt funktioniert, für mich ist das ganz normal.
Auch Sarah Forster spielte im Alter von 4 bis 18 Jahren mit Jungs. Sie bestätigt, dass diese Erfahrung für ihre Freundin Florence bei der Bewältigung der neuen Aufgabe ein grosser Vorteil ist. «Wenn eine Frau allein mit 20 Männern zu tun hat, lernt sie, sich durchzusetzen. Man darf sich nicht alles gefallen lassen, zumal so mancher herummäkelt ‹was macht die denn da?›».
Als erste konkrete Amtshandlung präsentierte Florence Schelling im Juli 2020 den neuen Cheftrainer des SC Bern, den kanadisch-österreichischen Doppelbürger Don Nachbaur, der zuvor in der NHL (237 Spiele) und letzte Saison in der Slowakei tätig war. «Don ist ein guter Kommunikator mit viel positiver Energie, eine selbstbewusste und dialogbereite Führungspersönlichkeit, die auch auf junge Spieler setzt», sagte eine wie üblich elegant und glamourös auftretende Florence Schelling. «Das beweist doch, dass sich eine Hockeyspielerin auch schminken oder Schuhe mit hohen Absätzen tragen darf», bemerkt Sarah Forster schmunzelnd. Florence Schelling oder die Kunst, mit Bodychecks gegen Vorurteile anzugehen.