Tones

Tones, der farbenfrohe Schweizer Graffitikünstler

Einer der ganz Grossen der Westschweizer Graffitiszene sprüht seine Kunstwerke in der ganzen Welt, sogar in den Büros von Nike. Eine Begegnung mit dem Genfer Meistersprayer.

Vor unserem Treffen auf einer Genfer Terrasse wird mir plötzlich bewusst, dass ich keine Ahnung habe, wie mein Gesprächspartner aussieht. Ich kenne nicht einmal seinen Nachnamen, nur sein Pseudonym. Die fünf Buchen seiner Signatur «Tones» (englisch ausgesprochen) prangen in knalligem Gelb oder Azurblau überall auf seinem Instagram-Account, auf seiner Facebook-Pinnwand und überhaupt auf unzähligen Wänden. Wegen seiner meisterhaften Werke zählt der Genfer zu den angesagtesten Künstlern der Westschweizer Graffitiszene.

Sein Kürzel ist auch international gefragt. Tones ist soeben von einem dreimonatigen Aufenthalt in Lateinamerika zurückgekehrt, wo er an einem renommierten Street Art Festival eingeladen war. Nachdem wir uns gefunden haben, stellt sich der junge Mann mit Hemd und Retrobrille als Tony vor und erzählt mir von dieser Reise voller Begegnungen und improvisierter Graffiti. Eine «verrückte Erfahrung».

Tones

Rap und Michael Jordan

Tony ist natürlich, spricht wie ein Cool Kid und entspricht ganz dem Bild eines Stadtkünstlers. Aber nichts prädestinierte den Dreissigjährigen für eine Sprayerkarriere. Am wenigsten seine kambodschanischen Eltern, die in die Schweiz kamen, um zu studieren, und eher akademische Interessen haben. «Ich erinnere mich aber an die gepflegte, kalligrafische Handschrift meines Vaters. Vielleicht hat er mir seinen feinen Strich vererbt.»

Auf jeden Fall begann Tony mit sechs Jahren, die Helden seiner Lieblingscomics nachzuzeichnen. Zuerst auf Papier, dann auf dem Schulpult. Ein Klassenkamerad teilte seine Leidenschaft, und so entwickelte sich ein Wettbewerb zwischen den beiden. «Jeden Montag holten wir eine Zeichnung aus unseren Eastpak-Rucksäcken heraus. Ziel war es, den anderen zu überraschen.» Die gezeichneten Figuren waren von Hip-Hop-Clips und den Bravourleistungen Michael Jordans inspiriert.

Une œuvre de Tones dans les rues de La Paz. © Tones
Ein Werk von Tones in den Straßen von La Paz. © Tones

Tanz der Buchstaben

Erst im Jahr 2000 packte Tones eine Spraydose und folgte Freunden, die sich zum heimlichen Taggen aufmachten. Gibt es eigentlich einen Unterschied zwischen Tag und Graffiti? Angesichts meiner Unwissenheit gibt mir Tony einen improvisierten Kurs in einer Ecke des Notizblocks. «Ein Tag ist eine spontane, stilisierte Unterschrift», erklärt er und setzt sein eigenes aufs Papier. «Es bildet die Grundlage der Graffiti-Bewegung.» Ein Graffiti dagegen ist aufwendiger gestaltet, es gibt verschiedene Stile – vom sehr runden Flop bis zum komplexeren Wildstyle. Graffitikünstler arbeiten im Gegensatz zu den Street Artists mit Buchstaben. Früher nannte man sie auch Writer. «Einige finden es egozentrisch, seinen Namen überall hinzusetzen. Das Entscheidende ist jedoch, wie man das Alphabet zerlegt und es sich aneignet, wie man es zum Tanzen bringt.»

Sa marque à Santiago du Chili. Instagram.com/tonesrock
Sein Andenken in Santiago de Chile. © Instagram.com/tonesrock

 

Graffiti kann man nicht in der Schule lernen. Tony machte sich bei einem alten Hasen der Szene, dem Genfer ReyOne, mit dem hüpfenden «T» und dem zappelnden «R» vertraut. ReyOne hatte in der Graffiti-Hochburg New York gelebt und wurde sein Mentor. Anhand von Übungen brachte er ihm die Grundlagen in Sachen Typografie, Komposition und Skalieren bei. Und er lehrte ihn auch die Codes. «Er hat mir die Tür zu dieser komplexen und schwer zugänglichen Welt geöffnet, in der man sich einen Ruf erwirbt, indem man frühere Arbeiten respektiert.»

Geschenk an die Stadt

Die amerikanische Ästhetik der 1980er-Jahre und der Austausch mit den Stars der New Yorker Graffitiszene haben Tones massgeblich beeinflusst. Er beschreibt seinen Stil als «fun» und «funky». Stellen Sie sich elastische, tanzende Buchstaben vor, dazu fröhliche, langgliedrige Figuren – eine Hommage an die geliebten Comics. Ein Werk von Tones ist auf dem Rollladen eines Kiosks an der Rue des Eaux-Vives zu sehen. Dieses Auftragswerk realisierte er unter erschwerten Bedingungen. «Es war Ende Dezember, 4 Grad, und ich konnte nur ausserhalb der Öffnungszeiten arbeiten, das heisst zwischen 2 und 9 Uhr morgens», erinnert sich Tony. «Aber jetzt bringt mein Graffiti die Leute auf dem Arbeitsweg zum Schmunzeln.»

New-York, influence omniprésente. © Tones
New York, allgegenwärtiger Einfluss. © Tones

 

Positive Energie in die grauen Strassen bringen, das ist Tones’ Ziel. Heute sprayt er hauptsächlich im Auftrag Privater oder der öffentlichen Hand, aber er hat auch «illegale Sachen» gemacht und versteht die Aufregung darüber nicht. «Ich sehe Graffiti nicht als Verschandelung, sondern als Geschenk an die Stadt. Und es ist ja nur Farbe, das ist doch eigentlich nicht schlimmer als die Verschandelung des Stadtbildes durch Werbung.» In den geschäftigen Strassen von La Paz und den Favelas von Delhi arbeitet der farbenfrohe Künstler weitab von Überwachungskameras und hochgezogenen Augenbrauen. Mit seiner Spraydose will er Brücken zwischen Kulturen und Generationen schlagen. «Die Vorstellung, dass eine unbeachtete baufällige Mauer plötzlich eine Grossmutter oder ein Kind anspricht, finde ich grossartig.»

«Kindheitstraum»

Die Dinge haben sich verändert in den fast zwanzig Jahren, seit der Nomade Tones in der Szene aktiv ist. Heute sind Graffitis in Museen zu sehen, schmücken Markenkleider und gewinnen zunehmend an Ansehen. «Früher kauften wir das Material in besetzten Häusern. Es war eine verschworene Untergrundgemeinschaft. Heute kannst du alles mit drei Klicks bestellen. Es gibt sogar Workshops und Lager für Kinder.»

Auch die Labels zeigen Interesse: Tones wurde schon von Microsoft, Lay’s und Nike angefragt. Für Nike übernahm er die Gestaltung einer Wand am Firmensitz in Oregon. Inspiriert von seinen Teenagerpostern realisierte er eine Basketballszene auf der 3x6 m grossen Fläche. «Ein Kindheitstraum» für den Genfer und gleichzeitig die Bestätigung, dass er endgültig in der Liga der Grossen mitspielt.

Eckdaten

1982 Geburt in Genf

2000 Erste Bekanntschaft mit der Spraydose

2003 Begegnung mit seinem Mentor, ReyOne

2009 Erstes Graffiti in seinem Herkunftsland Kambodscha

2017 Teilnahme am World Graffiti Project bei Nike WHQ, Beaverton OR, USA

 

Der Artikel erschien ursprünglich in der Westschweizer Zeitung Le Temps.

Fotograf  David Wagnières