Der Niesen

Der Niesen: die höchste Pyramide der Schweiz

Man muss nicht nach Ägypten reisen, um die Cheops-Pyramide zu bewundern: ein Berg in den Berner Alpen mit einer fast perfekt geometrischen Form hat viele Maler inspiriert.

Es handelt sich nicht um eines der sieben Weltwunder. Auch ist der Niesen nicht der bekannteste Berg der Schweiz: Das Matterhorn, die unbestrittene Ikone der Schweizer Alpen, ist um einiges berühmter. Dennoch fasziniert der Niesen die Massen, wie er schon viele Maler in seinen Bann gezogen hat. Einige bezeichnen den Niesen als «höchste Pyramide der Welt». Und diese kann man sogar besteigen!

Der Niesen

Emotionen bei jedem Wetter

Im Vergleich zu anderen, prestigeträchtigeren Gipfeln der Berner Alpen wie Eiger, Mönch und Jungfrau wirkt der Niesen mit seinen 2360 Metern Höhe wie ein Zwerg. Der Ausflugsberg am Tor zum Berner Oberland thront so majestätisch über dem Thunersee, dass er unweigerlich einen prägenden Eindruck hinterlässt. Verschiedene Aspekte tragen dazu bei: «Der Niesen hat die Form eines Dreiecks, das sogar ein Kind zeichnen kann», sagt Beat Hächler, der Direktor des Alpinen Museums der Schweiz in Bern. Ausserdem verstärkt die Tatsache, dass der Berg praktisch frei steht und für alle leicht zugänglich ist, die Wirkung auf den Betrachter oder die Betrachterin – selbst bei trübem Wetter. Dieser Nebel, diese Wolken! Den Besucherinnen und Besuchern verbergen sie manchmal den berauschenden Blick auf die umliegende Bergwelt. Doch eine Redensart besagt: «Hat der Niesen einen Hut, wird das Wetter gut». Der Aufstieg, für den man zwischen drei und fünf Stunden einplanen sollte, ist für durchschnittliche Wanderinnen und Wanderer nicht schwierig. Manchmal kommt es aber auch zu einer unliebsamen Überraschung. Selbst bei wolkenlosem Wetter kann innerhalb weniger Minuten Nebel aufkommen und die Sicht auf dem Gipfel plötzlich auf rund 15 Meter einschränken. Doch meist nur kurz: «Normalerweise verschwindet der Nebel ziemlich schnell», sagt Bruno Petroni, Autor des Buchs Der Niesen und seine Bahn.

Der Niesen

 

Eine historische Standseilbahn

Bruno Petroni (56) ist Journalist und Urenkel eines italienischen Gastarbeiters aus der Toskana, der zu Beginn des 21. Jahrhunderts ins Berner Oberland kam und unter anderem am Bau der Niesenbahn beteiligt war – einer der steilsten Bahnen der Schweiz mit einer maximalen Steigung von 68 Prozent. Für den Bau der Standseilbahn, der rund vier Jahre dauerte, waren bis zu 350 Arbeiter im Einsatz. Die Niesenbahn eröffnete 1910 ihren Betrieb und ermöglichte den Gästen einen schweizweit einzigartigen Panoramablick: im Nordwesten die Westschweiz und die Jurakette, im Südosten der Thunersee und die Alpen.

In der "Gazette de Lausanne" vom 14. Juli 1910. - ©️ Le TempsArchives.ch
In der "Gazette de Lausanne" vom 14. Juli 1910. - ©️ Le TempsArchives.ch

 

Die geschichtsträchtige Standseilbahn gehört zu den Attraktionen des Niesen. Sie befördert jährlich rund 100’000 Besucherinnen und Besucher zum Berghaus Niesen Kulm. Die roten Wagen, die mit rustikalen Holzbänken ausgestattet sind, fahren auch heute noch auf der ursprünglichen Strecke. Die 3,5 Kilometer lange Fahrt dauert eine knappe halbe Stunde und führt über die Zwischenstation Schwandegg. Oben erwartet die Gäste eine betörende, wilde und vom Wintertourismus unberührte Natur.

Die längste Treppe der Welt

Trotz der Gemächlichkeit ist hier alles einzigartig. Entlang dem Geleise der Standseilbahn verläuft eine schier endlose Treppe, die längste der Welt. Sie hat rund 11’700 Stufen, was ihr einen Eintrag ins Guinnessbuch der Rekorde eingebracht hat. Obwohl viele gerne die Treppe hochsteigen würden, ist das Betreten aus Sicherheitsgründen strikte verboten. Die Stufen sind schmal und die Bahn könnte Fussgängerinnen und Fussgänger erfassen. Die Treppe ist nur während des Niesen-Treppenlaufs im Juni zugänglich, bei dem Läuferinnen und Läufer aus rund 15 Ländern teilnehmen. 

Der Niesen ist auch ein Paradies für Gleitschirmflieger. «Durch die exponierte Lage ist die Voralpen-Pyramide ein idealer Startplatz für lange Flüge. Je nach Wind kann man in alle Richtungen starten», erklärt Bruno Petroni, ein leidenschaftlicher Gleitschirmflieger. Nicht zufällig ist der Europarekordinhaber Christian Maurer vom Niesen aus gestartet. Nach einem Flug über eine Strecke von 330 Kilometern landete er in Österreich.

Inspiration für viele Kunstschaffende

Die Pyramide der Schweiz hat auch zahlreiche Malerinnen und Maler verzaubert: Ferdinand Hodler, Paul Klee oder Cuno Amiet haben den Niesen zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf zahlreichen Bildern verewigt. Hodler hat ihn etwa zehnmal gemalt, unter anderem vom Kandertal aus. Klee zeigte sich während eines Aufenthalts in Gunten am Thunersee vom Niesen beeindruckt. Amiet wiederum malte ihn mannigfaltig von Thun aus. Häufig veranschaulichen die Werke den gewaltigen Kontrast zwischen Berg und Wasser, dieses Dreieck aus Fels, das aus dem See zu ragen scheint.

Der Niesen fasziniert vom Morgenrot bis zur Abenddämmerung. Vielleicht liegt das auch daran, dass man ihn von fünf verschiedenen Seiten aus besteigen kann: aus dem Diemtigtal, von Wimmis, Mülenen, Reichenbach und Frutigen. «Jedes Mal ist es ein anderer Berg mit anderen Landschaften», findet Bruno Petroni. Das macht die Magie dieses Berges aus.

Dieser Artikel von Michel Guillaume erschien ursprünglich am 28. August 2018 in der Westschweizer Zeitung «Le Temps».

Bild des Covers: ©️Jan Ryser/Keystone