Rorschachtest

Der Rorschachtest wird hundert Jahre alt. Erfunden hat ihn ein Schweizer Psychiater.

Der berühmteste aller psychologischen Tests, der den Geheimnissen der Seele mit Hilfe von Tintenklecksen auf die Spur kommen will, wurde vor 100 Jahren in der Schweiz entwickelt. Das Verfahren ist heute umstritten, wird aber in der Psychoanalyse weiterhin benutzt.

Was könnte das sein? Ein Tintenfleck. Symmetrisch. Mysteriös. Ziemlich schön... ja, aber was hat es damit auf sich? Es erinnert an eine Fledermaus. An einen Schmetterling. Oder an eine gestreckte Tierhaut. Oder vielleicht doch eher an eine Röntgenaufnahme des Beckens? Diese Szene kommt Ihnen wahrscheinlich bekannt vor. Es geht um ein Gespräch zwischen einem Therapeuten und seinem Patienten, dem er den Rorschachtest vorführt. Vielleicht haben Sie diesen Test, der zu den bekanntesten Prüfungen in der Psychologie gehört, selbst einmal gemacht. Zweifellos haben Sie ihn aber schon in Filmen gesehen, denn «der Rorschach» ist in der Populärkultur sehr präsent. Er wurde von Warhol gemalt, von zahlreichen Filmregisseuren in Szene gesetzt und hat eine der Figuren in der Comic- und Kultserie Watchmen inspiriert. Der Test ist zwar umstritten, erfreut sich aber nach wie vor grosser Beliebtheit weit über die Grenzen der Schweiz hinaus. 

Hermann Rorschach

Künstlerische Einflüsse 

Der Rorschachtest wurde in Zürich entwickelt. Er wurde nach seinem Erfinder, dem Schweizer Psychiater und Psychoanalytiker Hermann Rorschach (1884–1922), benannt, der an der psychiatrischen Universitätsklinik Burghölzli in Zürich tätig war. Er studierte unter Professor Eugen Bleuler, der an der Einführung der Psychoanalyse in der Schweiz beteiligt war und zahlreiche Begriffe der heutigen psychiatrischen Fachsprache – darunter «Schizophrenie» – prägte. Hermann Rorschach war der Sohn eines Zeichenlehrers und wollte anfänglich Künstler werden. Schliesslich entschied er sich für ein Medizinstudium, mit dem Ziel, Psychiater zu werden. Seine Methode wurde unter der Bezeichnung Rorschachtest weltweit bekannt. 

 

Optische Täuschungen

«Hermann Rorschach interessierte sich sehr für optische Täuschungen. In Russland, wo er eine Weile lebte, sammelte er Vexierbilder, die in den Zeitungen veröffentlicht wurden. Ihn faszinierte insbesondere die Mehrdeutigkeit von Kompositbildern, die zum Beispiel eine Frosch-Katze oder einen Eichhörnchen-Hahn zeigen», erklärt Sadegh Nashat. Der Psychologe und Dozent an der Universität Genf ist ein Kenner von Rorschachs Arbeit und hat dessen Aufzeichnungen im Archiv der Universität Bern studiert. 

Bei der Entwicklung seines Tests führte der Psychiater hundert Studien mit Tintenklecksbildern durch, die mehr oder weniger komplex, aber stets spiegelsymmetrisch waren. «Diese Tafeln sind kein Zufall, sondern das Ergebnis akribischer Arbeit. Rorschach überarbeitete jedes Detail. Um die Tafeln zu testen, präsentierte er sie Jugendlichen in stationärer Behandlung und Menschen mit Schizophrenie und fragte sie, worum es sich dabei handelt. Aus ihren Antworten glaubte er, Rückschlüsse auf bestimmte Krankheitsbilder und Persönlichkeitsmerkmale ziehen zu können», fährt Sadegh Nashat fort. 

1921 veröffentlichte Hermann Rorschach das Buch Psychodiagnostik, in dem er die Methodik und die Ergebnisse seines Experiments erläutert. Der junge Arzt hatte kaum Zeit, seine Nachforschungen zu vertiefen: Er starb ein Jahr später im Alter von 37 Jahren an einer zu spät behandelten Bauchfellentzündung. Er hinterliess eine Frau und zwei Kinder, aber auch ein unvollendetes Werk. «Er selbst sah seine Arbeit als einen Anfang und warnte vor voreiligen Interpretationen, die aus seinem Test abgeleitet werden könnten», betont Jacques Van Rillaer, emeritierter Professor für Psychologie an der Universität Leuven in Belgien. 

 

Rorschach Test
Der im Alter von 37 Jahren verstorbene Hermann Rorschach hat keine definitiven Angaben zur Interpretation des nach ihm benannten Tests gemacht 

 

Schwierige Handhabung 

Der in Fachkreisen zunächst eher kühl aufgenommene Rorschachtest gewann nach seinem Tod allmählich an Popularität, vor allem ab den 1940er-Jahren. Er fand Verbreitung in der ganzen Welt, insbesondere in den USA, Frankreich und Japan. Er wurde in der klinischen Praxis, aber auch bei Gerichtsgutachten und bei Einstellungsverfahren verwendet. «Der Vorteil dieses Tests besteht darin, dass er sehr schwer zu manipulieren ist, im Gegensatz zu einem Fragebogen, bei dem man versuchen kann, das Ergebnis zu seinen Gunsten zu beeinflussen», sagt Sadegh Nashat. Der Rorschachtest wurde in zahlreichen wissenschaftlichen Studien untersucht: Zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Artikels fördert die akademische Suchmaschine Google Scholar 118 000 ihm gewidmete Publikationen zutage! 

Der Test wird heute noch genauso durchgeführt wie vor 100 Jahren. Wer einen solchen Test macht, bekommt nacheinander zehn Blätter mit standardisierten Klecksbildern in die Hand gedrückt und wird gefragt, was er oder sie darin sieht. Die untersuchende Person notiert gewissenhaft alles, was die Testperson sagt. Die Interpretation des Tests basiert nicht nur auf dem Inhalt ihrer Beobachtungen – ein gewisser Anteil «banaler» Antworten wie Spinnen oder Schmetterlinge wird erwartet –, sondern auch auf der Art und Weise, wie das Bild analysiert wird. Beschäftigt sich die Testperson nur mit Details des Tintenklecks oder mit dem ganzen Bild? Achtet sie auf Farben oder eher auf die Form? Sieht sie Bewegung in den Bildern oder nur leblose Formen? usw. 

All diese Informationen sollen Aufschluss über die Persönlichkeit der Testperson geben. Aber wie genau? Hermann Rorschach machte keine genauen Angaben zur Interpretation seines Tests, und auch heute noch gibt es diesbezüglich zwei Hauptströmungen. In den französischsprachigen Ländern stehen viele Rorschachadepten in der Tradition der Psychoanalyse. «Rorschach selbst war Psychoanalytiker, er sah seinen Test aber nicht als Teil dieses Ansatzes. Das Problem ist, dass er dem Therapeuten freie Hand bei der Interpretation lässt, mit dem Risiko, dass man aus ein und derselben Reihe von Antworten zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen kommt», kritisiert Sadegh Nashat. 

 

Ink blot test

 

Anhänger und Kritiker 

Sadegh Nashat seinerseits schreibt sich dem angelsächsischen Ansatz zu, der insbesondere auf den Arbeiten des Amerikaners John Exner beruht. Dieser formalisierte den Test in den 1970er-Jahren weiter, definierte Normen und Indizes, um ein auf Statistiken basierendes Analyseverfahren zu entwickeln, das von einer anwendenden Fachperson zur anderen reproduzierbar ist. «Diese Methode hat sich als wirksam erwiesen, um Selbstmordabsichten zu erkennen, eine psychotische Episode zu diagnostizieren oder eine posttraumatische Belastungsstörung zu beurteilen», erläutert Sadegh Nashat. 

Jacques Van Rillaer kann allerdings auch dieser Methode nichts abgewinnen. «Zweifellos kommen verschiedene Therapeutinnen und Therapeuten zu ähnlichen Ergebnissen, wenn sie die Methode von Exner verwenden. Das heisst aber nicht, dass diese richtig sind! Der Rorschachtest tendiert dazu, einen Grossteil seiner Teilnehmenden zu pathologisieren. Besonders problematisch ist, dass er weiterhin für Gerichtsgutachten verwendet wird, obwohl seine Schlussfolgerungen gelinde gesagt fragwürdig sind», kritisiert der belgische Psychologe.

Sadegh Nashat seinerseits verteidigt die Validität des Tests, den er in seiner Praxis routinemässig anwendet: «Um aussagekräftig zu sein, darf der Rorschachtest nicht allein verwendet werden, sondern muss mit anderen psychologischen Tests kombiniert werden. Es ist sehr hilfreich, um die Schwierigkeiten und Ressourcen von Patientinnen und Patienten zu verstehen. Er erlaubt es auch, mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Bei der Präsentation der Ergebnisse können oft wichtige Punkte angesprochen werden, die in der Beratung nicht spontan erwähnt werden.» Handelt es sich also um ein Fenster auf die Seele des Menschen oder um Kaffeesatzleserei? Eine Antwort auf diese Frage bleiben uns die geheimnisvollen Rorschachkleckse auch ein Jahrhundert später schuldig. 

Dieser Artikel von Pascaline Minet erschien ursprünglich am 14. Oktober 2022 in der Westschweizer Zeitung «Le Temps».