Mechanik einer Walzenspieldose im Museum CIMA © T. Tissot

Die Poesie der Schweizer Mechanik

Die Meisterstücke der mechanischen Kunst haben viel mit Uhrmacherkunst zu tun, sind aber weniger bekannt als die berühmten Schweizer Uhren. Dabei ist ihr Mechanismus genauso komplex, bisweilen sogar noch komplexer.

Durch die Uhrmachertradition der Schweiz entwickelte sich ein Know-how, das Technik und Kunst verbindet. Seit dem 18. Jahrhundert können Automaten, Spieldosen und Singvögel dank feinmechanischer Bauweise ungeahnte Emotionen vermitteln.

Ihre Poesie hat bis heute nichts von ihrem Charme eingebüsst und verzaubert die Menschen noch immer – selbst im Zeitalter der Elektronik und Robotik. Automaten in Menschengestalt zwinkern mit den Augen, um ihre Lebendigkeit vorzutäuschen. Singvögel flattern zwitschernd mit ihren Flügeln. Die sorgfältig gebauten Meisterstücke überstanden die Jahrhunderte, ohne dass ihre Mechanik ins Stocken geriet. Auch heute werden in der Schweiz noch immer einige Modelle produziert, ganz nach alter Tradition.

Mechanik des Schreibers von Pierre Jaquet-Droz

Schweizer Erfindung: die Walzenspieldose

Im 18. Jahrhundert war mechanische Kunst vor allem in Genf sehr beliebt. Der Genfer Antoine Favre erfand 1796 die Walzenspieldose, als es ihm gelang, mithilfe der Mechanik ein neuartiges Musikinstrument anzutreiben. Zunächst wurde das Laufwerk in Uhren, Schmuckstücken und Tabakdosen eingebaut, später in eigentlichen Klangkasten, die in den Salons vorgeführt wurden und sich grösster Beliebtheit erfreuten.

Im Verlauf der Zeit wurden die Spieldosen mit immer raffinierteren Elementen erweitert. Das Angebot an Melodien wurde vielfältiger, es kamen neue Klänge wie Glocken, Kastagnetten, Akkordeon und Mandoline dazu. Die Geschichte der Spieldosen lässt sich im Centre International de la Mécanique d'Art (CIMA) in Sainte-Croix nachverfolgen. Die Besucherinnen und Besucher können die verschiedenen Laufwerke bestaunen, die teilweise seit zweihundert Jahren in Betrieb sind. Sainte-Croix selber ist von historischer Bedeutung. Das Dorf im Waadtländer Jura war im 19. Jahrhundert eine Hochburg der Herstellung mechanischer Objekte – es gab rund vierzig spezialisierte Unternehmen. Mit dem Einzug der Elektronik haben die meisten von ihnen die Produktion eingestellt.

Walzenspieldose im Museum CIMA © T. Tissot
Walzenspieldose im Museum CIMA © T. Tissot

Singvögel: mechanische Meisterwerke voller Poesie

Der Anblick hat schon etwas Magisches: Nach dem Aufziehen des Mechanismus öffnet sich die Tabakdose, und es erscheint ein kleiner Vogel. Er flattert, bewegt den Schnabel und bezaubert durch seinen melodischen Gesang. Ist sein Auftritt vorbei, verschwindet er sogleich wieder in der Dose.

Wer diese mechanischen Singvögel sieht, ist unweigerlich verzückt. Man stelle sich vor, welche Begeisterung sie nach der Erfindung im Jahr 1780 ausgelöst haben! Sie entsprangen der Fantasie von Pierre Jaquet-Droz, einem Mechaniker und Uhrmacher aus Neuenburg.

Singvögel © Reuge
Singvögel © Reuge

Ursprünglich wurden die Singvögel in Käfigen eingebaut. Der Ton entsteht mittels Blasebalg, der Luft in einen Kolben bläst. Das System wurde von Blaise Bontems, einem französischen Uhrmacher, weiterentwickelt, der die Singvögel ab 1848 in Paris herstellte. Auf Wunsch von Kaiser Napoleon III. montierte er sie in Tabakdosen. Ein Jahrhundert später, als die Manufaktur Reuge die Firma Bontems und den deutschen Fabrikanten Eschle übernahm, kehrten die mechanischen Singvögel in ihr Ursprungsland zurück.

Äusserst komplexe Feinmechanik

Die Singvögel-Automaten aus Sainte-Croix werden auch heute noch mit denselben Grundmechanismen hergestellt. Ein Singvogel der Marke Reuge besteht aus 214 Teilen. Für die Montage wird das Know-how eines Uhrmachers benötigt. Jene aus dem Hause Frères Rochat verfügen über die komplexeste Feinmechanik. Ganze sechs Monate werden benötigt, um die 1227 Teilchen zusammenzubauen. Das Wissen der Brüder Rochat war zwei Jahrhunderte in Vergessenheit geraten und wurde erst vor einigen Jahren wiederentdeckt. Die wertvollen Meisterwerke kosten bis zu mehreren Hunderttausend Euro und werden an Liebhaber in der ganzen Welt verkauft.

Singvogel © Reuge
Singvogel © Reuge

Automaten: eine selten gewordene Kunst

Die Meister der Mikromechanik träumen davon, menschliche Bewegungen nachzuahmen. Dazu bedienen sie sich des Prinzips der Musikdose, wobei das Triebwerk über Zahnräder die Bewegungen der Automaten auslöst. Sie sehen aus wie Sammlerpuppen, die sich auf wundersame Weise zu bewegen beginnen, sobald der Mechanismus in Gang gesetzt wird. Sie heben einen Arm oder ein Bein, blinzeln mit den Augen und bewegen die Lippen. Sie galten früher als Wunder und faszinieren noch heute.

Drei weltberühmte Androiden aus Neuenburg

Zu den berühmten Automaten aus der Schweiz zählt das im Kunsthistorischen Museum in Neuenburg ausgestellte Androiden-Trio. Der Schreiber, der Zeichner und die Musikerin wurden zwischen 1768 und 1774 von Pierre Jaquet-Droz, seinem Sohn Henri-Louis und Jean-Frédéric Leschot in La Chaux-de-Fonds hergestellt.

Jeder Automat besteht aus mehreren Tausend Teilen. Der Schreiber kann einen vorprogrammierten Text schreiben. Er taucht eine Feder in ein Tintenfass, schüttelt sie leicht, und beginnt auf dem Papier zu kratzen. Der Zeichner zieht Striche mit einem Bleistift und bläst den Bleistiftstaub weg. Die Musikerin schliesslich spielt ein Stück auf einem kleinem Piano.

Die Jaquet-Droz-Automaten © Kunsthistorisches Museum, Neuenburg
Die Jaquet-Droz-Automaten © Kunsthistorisches Museum, Neuenburg

Damals lösten diese ausgeklügelten Kunstwerke in der ganzen Welt Begeisterung aus. Bei öffentlichen Ausstellungen standen die Menschen Schlange. Sie wurden in ganz Europa vorgeführt, sogar am Hof von Ludwig XVI. in Paris. Laut der Zeitschrift a+k (Kunst+Architektur in der Schweiz) zum Thema Mechanische Künste des 18. Jahrhunderts war der Erfolg der Firma Jaquet-Droz damals so gross, dass sie Werkstätten in La Chaux-de-Fonds, Genf und sogar London betrieb.

Automatenbauer – ein Beruf mit Seltenheitswert

Bei der Herstellung eines Automaten ist die präzise mechanische Konzeption ausschlaggebend. Wichtig sind aber auch die Ausführung des Objekts und seine Ausstattung. In seinem Atelier in Sainte-Croix erhält der Automatenbauer François Junod die Kunst aufrecht. Das Restaurieren von Automaten hat er von Michel Bertrand gelernt, der 1999 verstarb.

François Junod und seine Mitarbeitenden führen heute Aufträge von Kunden aus der ganzen Welt aus. Sein Fachwissen zur traditionellen Herstellung und Restaurierung von Automaten ist international anerkannt. Nur noch ganz wenige beherrschen dieses Kunsthandwerk.

Mechanik einer Walzenspieldose im Museum CIMA © T. Tissot
Mechanik einer Walzenspieldose im Museum CIMA © T. Tissot