Jacques Dubochet, ein vorbildlicher Nobelpreisträger
Der 75-jährige Schweizer Biophysiker ist seit seiner Pensionierung in der Freiwilligenarbeit tätig. Er will von seinem unerwarteten Ruhm profitieren, um Themen, die ihm am Herzen liegen, zu mehr Aufmerksamkeit zu verhelfen, zum Beispiel der Migration und dem Klimawandel.
Einige Tage vor der Preisübergabe in Stockholm (10. Dezember 2017) beschäftigen den Nobelpreisträger für Chemie, Jacques Dubochet, und seine Familie jedoch vor allem Kleiderfragen. «Meine Tochter stösst sich sehr an der Notwendigkeit, sich so herausputzen zu müssen. Das sind unsere grössten Sorgen!», sagt der Nobelpreisträger scherzend am Telefon. Es ist also alles in Ordnung. Den Medienrummel, in den der 28. Nobelpreisträger aus der Schweiz seit der Bekanntmachung seiner Ehrung am 4. Oktober 2017 geraten ist, hat seinen Sinn für Humor in keiner Weise beeinträchtigt.
Einen Tag nach der Preisverkündigung amüsierte Jacques Dubochet die ganze Welt mit seinem witzigen Lebenslauf. Er schrieb, er sei im Oktober 1941 von optimistischen Eltern gezeugt worden, er habe 1946 die Angst vor der Dunkelheit verloren, weil ihm Kopernikus erklärt habe, dass die Sonne wieder aufgehe. Er schrieb auch, dass er als erster Schüler des Kantons Waadt 1955 die offizielle Diagnose Dyslexie bekam, was ihm erlaubte, schlecht in allem zu sein, und Leute mit Schwierigkeiten zu verstehen. «Dass mein Lebenslauf einen solchen Hype ausgelöst hat, zeigt doch die fehlende Kreativität in unserer Gesellschaft», unterstreicht der Professor mit einem Augenzwinkern.
«Ich hatte schon immer das Bedürfnis, alles verstehen zu wollen»
Hier sein offizieller Lebenslauf: Jacques Dubochet wurde 1942 in Aigle im Kanton Waadt geboren. Einen Grossteil seiner Kindheit verbrachte er im Wallis in einem protestantisch geprägten Milieu. Sein Vater war Ingenieur und baute Staudämme. Seine Mutter, die der Literatur zugetan war, kümmerte sich um die vier Kinder. Sie war überzeugt, dass ihr drittes Kind eines Tages den Nobelpreis erhalten würde. Mit zwölf Jahren baute der Junge im Werkunterricht Teleskope, während seine Schulkameraden Holzstücke bearbeiteten, um daraus Schälchen für Erdnüsse zu schnitzen. «Ich hatte immer das Bedürfnis, die Dinge zu verstehen, um im Leben weiterzukommen, so wie man essen muss, um zu überleben», erklärt er.
Er studierte Physik an der Ecole polytechnique der Universität Lausanne (EPUL) – heute ETH Lausanne. Danach widmete er sich in Genf der Elektronenmikroskopie der DNA, die sein Hauptthema blieb. Er promovierte in Biophysik in Genf und Basel bei Professor Eduard Kellenberger. 1987 wurde er Professor an der Universität Lausanne (Abteilung Ultrastrukturanalyse) sowie Direktor des Elektronenmikroskopiezentrums. Von 1998 bis 2002 leitete er die Fakultät für Biologie. «Ich bin Physiker, aber anstatt die Sterne zu betrachten, habe ich die Atome betrachtet», erklärt Jacques Dubochet.
Der Waadtländer erhielt den Nobelpreis für Chemie mit seinen beiden Kollegen Joachim Frank (USA) und Richard Henderson (GB). Sie wurden für ihre Arbeiten zur Kryo-Elektronenmikroskopie ausgezeichnet. Mit ihrem Verfahren können Proben unter dem Mikroskop beobachtet werden, ohne sie vorher trocknen oder mit Produkten behandeln zu müssen, die sie verändern könnten. Bei diesem Verfahren erstarrt das Wasser der Proben zu einem glasartigen Feststoff. Die Lösung wird so schnell und radikal abgekühlt, dass sich keine Eiskristalle bilden können.
Wie ist es, Nobelpreisträger zu sein? «Sobald ich den Mund öffne und mich zu irgendeinem Thema äussere, hört man mir zu, weil ich ein Nobelpreisträger bin», meint der Biophysiker. Man muss aufpassen, dass man auf dem Boden der Realität bleibt.» Er ist sich der Gefahr bewusst, aber er will diesen Bekanntheitsgrad auch nutzen, um auf Themen aufmerksam zu machen, die ihm wichtig sind. Dazu gehören die Migration, die Klimaerwärmung und Wissen im Allgemeinen, das für ihn eines der wichtigsten öffentlichen Güter ist, das für alle zugänglich sein muss.
Engagierter Zeitgenosse
Jacques Dubochet ist seit langem aktives Mitglied der Waadtländer SP. Während der Protestbewegungen vom Mai 1968 wurde er festgenommen, nachdem er auf einen Pfosten gestiegen war, um Plakate gegen den Automobilsalon in Genf aufzuhängen, erzählte er in der TV-Sendung Pardonnez-moi von RTS. Seit er pensioniert ist, gibt er jungen Migrantinnen und Migranten Mathematikunterricht.
Für ihn tut die Welt nicht genug in Bezug auf die Migration und den Klimawandel. «Wir müssen solidarisch sein, denn wir stehen alle vor den gleichen Problemen. Die CO2-Emissionen betreffen den ganzen Planeten.»
Der Nobelpreisträger ist sich der Möglichkeiten, die er in der Schweiz hatte, sehr wohl bewusst. «Gestern Morgen gab ich einem 19-jährigen Afghanen Mathematikunterricht», erzählt er. «Es war sehr schwierig. Der Junge hatte nicht die gleichen Chancen wie ich. Er hat nicht die Bildungsgrundlagen für einen Nobelpreis erhalten. Er wäre gern Astronaut geworden. Aber daraus wird wohl nichts.» Dubochet lobt die Mittel, die in der Schweiz für die Forschung gesprochen werden, aber er warnt vor Bestrebungen, die darauf abzielen, die Unabhängigkeit der Forscherinnen und Forscher einzuschränken. «Ich erlebte während meiner ganzen Karriere eine ungewöhnlich gute kreative Freiheit. Diese Freiheit gilt es zu verteidigen.»
Jacques Dubochet hat seinen Lebenslauf nach der Verleihung des Nobelpreises noch nicht angepasst. Was wird er schreiben? «Ich habe noch nicht darüber gedacht», antwortet er. «Ich müsste etwas Lustiges finden. Haben Sie eine Idee?» «Ja, wie wäre es mit: 2017: Meine Mutter hatte recht.»
Der Lebenslauf von Jacques Dubochet auf der Website der Universität Lausanne
Medienmitteilung zum Nobelpreis für Chemie 2017
TV-Sendung Pardonnez-moi, RTS (Radio Télévision Suisse), Jacques Dubochet
Vortrag an der Universität Lausanne, am 20. November 2017 (englisch)