Monte Verità: Die frühe Schweizer Hippie-Kolonie
Als junge Frau war Ida Hofmann eine erfolgreiche Klavierlehrerin und glamouröse Sozialistin in Russland, Österreich und Montenegro. Doch dann wagte sie einen radikalen Neuanfang im Tessin und begründete damit den Mythos Monte Verità.
Im Herbst 1900 durchstreiften sechs junge Menschen Oberitalien und die Südschweiz, unter ihnen das Liebespaar Ida Hofmann und Henri Oedenkoven. Sie trugen weite Leinenkleider, zähmten das lange, offene Haar mit Stirnbändern und gingen «barfüssig in Sandalen». Es waren die Hippies des Fin-de-Siècle. Ihr Ziel: Landerwerb im grossen Stil. In Ascona fanden sie, wonach sie suchten, einen verwilderten Weinberg. Und sie hatten die nötigen Mittel, um den Berg gleich zu kaufen. Denn sie waren zwar Aussteiger, aber aus begüterten Mittelstandsfamilien stammend. Was sie in dieser damals noch völlig unbekannten Ecke der Schweiz planten? Nichts Geringeres als eine neue Welt zu erschaffen, eine Alternative zur industrialisierten, beschleunigten Gegenwart, die ihnen Leib und Seele zu gefährden schien.
Von der Kosmopolitin zur Lebensreformerin
Ida Hofmann (1864-1926), gebürtige Sächsin und damals sechsunddreissig Jahre alt, hatte schon eine beachtliche Karriere hinter sich. Sie verdiente ihr eigenes Geld mit Anstellungen als Klavierlehrerin in Russland, als Erzieherin in Montenegro und als Hofdame in Wien. Sie soll sieben Sprachen fliessend gesprochen haben. Auf dem Monte Verità wurde sie zum Mastermind der geplanten Naturheilanstalt. Ihre Programmschriften widmete sie der vegetarischen und veganen Ernährung, sie enthielten aber auch kühne feministische Appelle: «Bleibet nicht Puppen, sondern werdet Menschen!»
Ans Werk!
Der Anfang war hart. Gearbeitet wurde bis zu zwölf Stunden am Tag: Gemüsegärten entstanden, Obst- und Olivenbäume wurden angepflanzt, Hütten aus Holz, Stein und Kalk erbaut. Die Rückkehr zur handwerklichen Arbeit gehörte zum Programm. Entspannung versprachen rhythmische Tänze, Sonnenbäder und die Vorzüge der freien Liebe. Bemerkenswert ist, dass die Gründerinnen und Gründer unkonventionell, aber keineswegs unwirtschaftlich dachten. Ihr Projekt bewegte sich auf dem schmalen Grat zwischen Gesellschaftsutopie und touristischem Erfolgsmodell. Zahlende Kurgäste, das war fast von Beginn weg klar, waren willkommen. «Mit Beginn des Frühjahres 1902, welches bereits Mitte Februar das erste Sonnenbad gestattet, wird ein Prospekt unserer Anstalt verfasst. ‹Monte Verità› nennen wir den Boden unseres von Wahrheitssuchern gegründeten und den Wahrheit Suchenden geweihten Unternehmens», ist in Hofmanns Aufzeichnungen zu lesen. Gäste konnten sich gegen Bezahlung in einer der «Lichtlufthütten» einmieten (gut gelüftet, sonnendurchflutet, nach Süden geöffnet) und den Alltag mit den Monte Verità-Gründern teilen. Der Wohnkomfort war auf ein Minimum beschränkt, dafür waren im Gemeinschaftshaus Speiseräume, Bibliothek und Spielzimmer zu finden.
Verzicht üben
Verboten waren alle «scharfen, giftigen Reizmittel», also Alkohol, Tee, Kaffee und Tabak. Selbst Salz wurde gestrichen. Aber nicht alle Kurgäste hielten sich an die Regeln: «Da waren auch alle jene, die sich an den warmen dunklen Abenden zu dem umliegenden Dorf schlichen, um verbotene Dinge wie gewürzte Salami und gute Tessiner Weine zu geniessen. Wieder und wieder fand Henri Oedenkoven auf dem Gebiet der Kolonie die Reste von fettem Schafkäse. Die anklagenden Beweise trug er wie Gift zwischen zwei Fingern.» Bloss allmählich wurde das Regime gelockert, Fleisch stand nun doch auf dem Speisezettel und auch die Reformkleidung war nicht mehr obligatorisch.
Laboratorium der Lebens- und Kunstformen
Der Monte Verità entwickelte eine ungeheure magnetische Anziehungskraft. Zu den «Monteveritanern» gesellten sich im Laufe der Jahre auch die Schriftsteller Hermann Hesse und Erich Mühsam, die Tänzerinnen Isadora Duncan und Mary Wigman, der Choreograph Rudolf von Laban, der Philosoph Max Weber, die Malerin Marianne von Werefkin, kurz: ein Who’s who von Intellektuellen und Bohème-Berühmtheiten. Nach dem Ersten Weltkrieg erlahmte der Elan von einst, Ida und Henri, jahrelang in wilder Ehe vereint, hatten sich auseinandergelebt und verliessen die Lago Maggiore-Gegend (Ida Hoffmann starb 1926 nach schwerer Krankheit in São Paulo). Aber da war der Mythos längst schon stärker als die Realität – noch jahrzehntelang galt der Monte Verità als ein ganz besonderer Ort.
Kraftfeld und Inspirationsquelle
Das entging auch Baron Eduard von der Heydt nicht. 1927 erwarb der Bankier das Gelände. In seinem Auftrag errichtete der Architekt Emil Fahrenkamp ein schickes Hotel im Bauhaus-Stil, und mit einem Mal war die Kolonie der Lebensreformer zur mondänen Adresse geworden. Heute finden im Bauhaus-Hotel internationale Tagungen statt und Kulturtouristen bestaunen die sorgsam restaurierten Holzhütten und die Freiluft-Dusche aus der Gründerzeit. Wohl war das lebensreformerische Experiment von Ida und Henri nicht von Dauer, doch seine Faszination ist ungebrochen. Es erinnert uns daran, dass die Utopie eines naturnahen, selbstbestimmten Lebens nichts von ihrer Aktualität eingebüsst hat.