copyright Guillaume Megevand

Der Schweizer, der rennt wie ein Kenianer

Der Genfer Julien Wanders trainiert in Kenia, seit er achtzehn ist. Heute gehört der 23-Jährige zu den besten Läufern der Welt. Die Geschichte eines kühnen Unterfangens.

Kaum hatte er das Gymnasium abgeschlossen, brach der Genfer Julien Wanders auf nach Kenia, um mit den Besten der Welt in der Läuferhochburg Iten zu trainieren. Sein Ziel: in die Weltelite vorzustossen. In seinem Umfeld stiessen seine Pläne anfänglich vor allem auf Skepsis.

Fünf Jahre später lebt und trainiert Julien Wanders immer noch acht Monate im Jahr im kenianischen Hochland, und das Wagnis scheint sich auszuzahlen. Im Oktober 2018 stellte er im südafrikanischen Durban einen neuen Strassen-Europarekord über 10km auf. Im Februar 2019 folgte in Ras al-Khaimah in den Vereinigten Arabischen Emiraten ein noch spektakulärerer Erfolg: Mit einer Glanzzeit von 59:13 Minuten pulverisierte er den Europarekord von Mo Farah, dem britischen Olympiasieger über 5000 und 10’000m.

Dass der 23-jährige Genfer mit den besten afrikanischen Läufern mithalten konnte, verblüffte die Beobachter. Wanders selbst erklärte mit der ihm eigenen Selbstsicherheit, aber frei von jeglicher Prahlerei: «Ich liebe es, mich mit den Besten zu messen, und hoffe, dass ich die Afrikaner eines Tages an den internationalen Meisterschaften schlagen kann. Dieser Traum wird immer realistischer.»

 

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Der Schweizer Erfolgstrainer Laurent Meuwly, der auch Léa Sprunger, Europameisterin über 400m trainiert, macht aus seiner Bewunderung für den zielstrebigen Genfer keinen Hehl. «Bei uns glauben viele Junge, sie könnten Olympiasieger werden, ohne die Komfortzone zu verlassen. Julien hat es gewagt, sein ganzes Leben auf seine sportlichen Ziele auszurichten.»

Auch Sporthistoriker Pierre Morath und Autor des Films «Free to Run» ist begeistert von Wanders. «Julien ist enorm entschlossen und erntet nun die Früchte seiner Arbeit. Er ist der lebende Beweis, dass man es schaffen kann, wenn man an etwas glaubt.»

200 km pro Woche

Julien Wanders lebt in einem bescheidenen Häuschen in Iten auf 2500m Höhe, wo auch andere Europäer mit afrikanischen Läufern trainieren. Sein Programm umfasst rund 200km pro Woche. Zweimal am Tag, um 5 Uhr morgens und am späten Nachmittag, trainiert er auf den Feldwegen in der idyllischen Hügellandschaft. Sein Leben teilt er mit Jepkorir, einer jungen einheimischen Lehrerin. «Sie bringt mich auf andere Gedanken. Wir reden nicht nur vom Laufen, und das tut mir gut.» Julien Wanders sieht sich eher als Perfektionisten denn als Arbeitstier. «Mir ist egal, was andere sagen oder denken. Ich bin anders, etwas extremer, innovativer. Ich weiss, was ich will, und mache mein Ding.»

Wanders stammt aus einer musikalisch interessierten Familie, nichts prädestinierte ihn für eine Laufkarriere. Sein Vater André ist Chemielehrer und Cellist im Ensemble Quatuor de Genève, seine Mutter Geigerin im Orchestre de la Suisse Romande.

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Bedenken der Eltern

Die Eltern liessen ihren Sohn trotz Bedenken ziehen. «Wir hätten es lieber gesehen, dass Julien studiert, aber er war so entschlossen, dass es schwierig war, nein zu sagen. Uns war zu Beginn nicht ganz wohl. Deshalb bestanden wir darauf, dass er wenigstens die ersten zwei Monate in einer Familie wohnte», erzählt Juliens Vater, der sich über die Erfolge seines Sohnes freut. «Heute ist Julien dabei, seinen Traum zu verwirklichen. Er ist auf dem richtigen Weg. Anstatt von Stolz zu sprechen, würde ich eher sagen, dass wir uns sehr freuen für ihn.» Julien erinnert sich an die Bedenken seiner Eltern vor der Abreise. «Sie waren nicht begeistert, aber sie wussten, dass sie mich nicht stoppen konnten.»

André Wanders kümmert sich in Genf um die Sponsoren seines Sohnes, darunter Nike und Team Genève. Marco Jäger, der Trainer von Stade Genève, betreut Julien, seit er fünfzehn ist, und stellt ihm die Trainingspläne nun aus der Ferne zusammen. Die beiden tauschen sich regelmässig über Skype aus. «Julien hat vor nichts Angst, er wollte sich immer mit den Besten messen. Alles, was er macht, tut er mit Leidenschaft, weil er es liebt. Vielleicht stösst er eines Tages an seine Grenzen, aber bis jetzt wird er ständig besser. Wer weiss, wie weit er kommt.»

Im Dezember 2018 wurde Wanders an den Swiss Sports Awards zum Newcomer des Jahres gewählt. Letzten Winter absolvierte er die legendären Stadtläufe der Schweiz: den Stadtlauf in Basel, die Corrida in Bulle und natürlich die Escalade im heimischen Genf, die er als Fünfjähriger erstmals gelaufen war. Hier unterbot er im Dezember den Streckenrekord vor einem begeisterten Publikum, das ihn in den Strassen der Altstadt feierte.

2014 Berlin marathon copyright Kai Engelhardt
2014 Berlin marathon, copyright Kai Engelhardt

Den Marathon im Visier

Bis jetzt ist Julien Wanders auf der Strasse besser als auf der Bahn, auch wenn er letzten Sommer an den Europameisterschaften in Berlin sowohl im 5000- als auch im 10’000-m-Lauf den Final erreichte. Für den Rest der Saison konzentriert er sich hauptsächlich auf die Bahn, vor allem wegen Weltmeisterschaften in Doha (Katar) Ende September. Wanders’ grösstes Potenzial sehen die Experten jedoch im Marathon. «Julien ist ein Instinktivläufer, er fühlt sich nicht so wohl bei den nervösen, taktischen, von ständigen Tempowechseln geprägten Rennen auf der Bahn», sagt Laurent Meuwly. «Bis in drei oder vier Jahren kann er aber zu einem der besten Marathonläufer der Welt werden.» Pierre Morath ist ebenfalls dieser Meinung. «Auf der Bahn fehlt es Julien ein bisschen an Beschleunigungsvermögen für den Finish. Aber im Marathon sieht seine Zukunft sehr vielversprechend aus.»

Der ehrgeizige junge Genfer setzt sich keine Grenzen. «Ich spüre immer noch die gleiche Motivation, die gleiche Leidenschaft, die gleiche Lust, möglichst weit zu kommen.»