Schweizer Frauenfussball im Hoch
Die Schweiz wird 2025 Gastgeberin der Fussball-Europameisterschaft der Frauen sein und damit ihren ersten Grossanlass im Frauenfussball durchführen. Abgesehen von der weltweiten Ausstrahlung dieses Events ist dies ein starkes Zeichen, das die Bedeutung des Frauenfussballs in der Schweiz sichtbar macht. Die Zahl der Fussball spielenden Frauen und Mädchen ist in den letzten Jahren förmlich explodiert. Und das Schweizer Nationalteam, das auf höchstem Niveau spielt, wird in diesem Sommer in Australien und Neuseeland seine zweite Weltmeisterschaft bestreiten. Gründe und Hintergründe eines Phänomens.
Mit 37 Jahren und über 100 Länderspielen ist die Freiburgerin Gaëlle Thalmann die älteste Spielerin und eine der herausragendsten Persönlichkeiten des Schweizer Frauen-Nationalteams. Im Sommer 2023 wird die Torhüterin in Australien und Neuseeland zum zweiten Mal an einer Weltmeisterschaft teilnehmen, nach Kanada 2015 und den Europameisterschaften in Holland (2017) und England (2022). Sie hofft, ihre Karriere bis 2025 fortsetzen zu können, um mit der Heim-EM ein weiteres Endrunden-Highlight zu erleben: «Eine EM oder WM ist immer etwas Aussergewöhnliches, aber ein solches Event zu Hause zu erleben, ist noch einmal etwas ganz anderes», erklärt sie.
Gaëlle Thalmann, die langjährige Schweizer Nati-Torhüterin.
© Keystone
Als Kind spielte die Freiburgerin mit den Jungs auf dem Schulhof. Thalmann begann ihre Karriere im Alter von elf Jahren in einem gemischten E-Juniorenteam des FC Bulle, das von ihrem Vater trainiert wurde. Mit 14 Jahren wechselte sie in ein reines Frauenteam. Ihre Karriere ging steil nach oben. Es folgten Wechsel nach Italien, Spanien und Deutschland. Dort spielte sie in den höchsten Ligen, bevor sie in die Schweiz zurückkehrte und bei Servette Chênois, einem der besten Teams des Landes, unterschrieb. Im Verlauf der fast 30 Jahre auf dem Spielfeld hat sie den Aufschwung des Frauenfussballs persönlich miterlebt. «Ja, es hat sich viel verändert. Es ist noch nicht so lange her, da begegnete man uns mit ungläubigem Staunen. Heute sind die negativen Vorurteile dank der besseren Sichtbarkeit des Sports fast verschwunden.» Und sie fügt hinzu: «Man kann sehr wohl auf dem Spielfeld angriffig und im Leben feminin sein. Wir üben unseren Sport aus, daneben sind wir Frauen wie andere auch.»
Die Schweiz erhielt am 4. April 2023 in Lissabon den Zuschlag für die UEFA Women’s EURO 2025, die 14. Auflage des europäischen Kontinentalwettbewerbs im Frauenfussball. Sie setzte sich damit gegen andere gute Bewerbungen wie jene Frankreichs sowie das nordische 4er-Ticket Dänemark, Finnland, Schweden und Norwegen durch. Die Kompaktheit und die politische Stabilität des Landes gaben den Ausschlag für die Entscheidung zugunsten der Schweiz. «Damit dürfte die Zahl der Mädchen, die mit Fussballspielen anfangen, steigen», sagte der Präsident des Schweizerischen Fussballverbandes (SFV), Dominique Blanc, nach der Abstimmung. Sportministerin Viola Amherd freute sich über den Entscheid der UEFA: «Die Women’s EURO 2025 bietet für die Schweiz und für den Frauenfussball grosse Chancen.» Für die Schweizer Fussballerinnen wird es die 3. EM-Teilnahme in Folge sein, was ihre Stärke belegt.
«Abgesehen von den schönen Worten hat der SFV mit der Aufrechterhaltung dieser Kandidatur bis zum Schluss bewiesen, dass die Weiterentwicklung des Frauenfussballs zu seinen Prioritäten gehört. Es ist die Belohnung für alles, was wir gemacht haben», sagt Linda Vialatte, eine Pionierin des Frauenfussballs. Sie ist seit über 30 Jahren Präsidentin von Yverdon Sport féminin, dem zweiten Westschweizer Team in der Swiss Women’s Super League neben Servette Chênois. Nichts veranschaulicht die spektakuläre Entwicklung des Frauenfussballs in der Schweiz in den letzten Jahren besser als Zahlen. Waren 1990 noch 4000 Spielerinnen offiziell Mitglied des SFV, so lag ihre Zahl im Jahr 2000 bereits bei 8000 und 2010 bei 20’000. Heute spielen mehr als 30’000 Mädchen und Frauen in rund 800 Teams im ganzen Land.
«Die Erfolge des Schweizer Frauenteams und die häufigeren Übertragungen im Fernsehen waren die beste Werbung», sagt Linda Vialatte. «Heute sind Spielerinnen wie Ramona Bachmann einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Und die Mädchen fangen früher an zu spielen», stellt die Club-Präsidentin fest. «Nicht weit von Yverdon, im kleinen Dorf Villars-Saint-Pierre, findet jede Woche ein Training für die ganz Kleinen statt. Jedes Mal sind etwa 50 Mädchen dabei.»
Neben dem Frauen-Nationalteam sind auch die Schweizer Juniorinnenauswahlen der U-16 bis U-19 international erfolgreich unterwegs. Die U-17 hat sich gerade für die EM-Endrunde qualifiziert und dabei die Slowakei, Slowenien und Österreich eliminiert. Zur Auswahl gehört Kaia Grande, die ebenfalls aus Yverdon stammt. Mit 16 Jahren spielt sie bereits in der Women’s Super League. «Mein Vater und mein älterer Bruder waren grosse Arsenal-Fans und sahen sich jedes Spiel im Fernsehen an. So kam ich im Alter von acht oder neun Jahren auf die Idee, selber zu spielen. Was ich am Fussball liebe, sind die Emotionen, die er auslöst», erklärt die junge Stürmerin. Sie besucht eine Sportklasse am Gymnasium Auguste Piccard in Lausanne: Dort hat sie morgens Unterricht und nachmittags frei, sodass sie viermal pro Woche trainieren und daneben selbständig lernen kann. «Ich bin die einzige Fussballerin in der Klasse unter Schwimmerinnen, Judoka und Tänzerinnen. Als ich es erzählte, waren einige erstaunt: «Fussball? Wirklich?», aber es war überhaupt nicht negativ gemeint», fügt sie an.
Die Genferin Sandy Maendly (35), die 2022 nach 89 Länderspielen vom Spitzenfussball zurücktrat und heute Koordinatorin bei Servette Chênois ist, hat eine weitere gläserne Decke durchbrochen. Während Frauen in den Fussballtalkshows französischer Sender höchstens als Ansagerinnen fungieren, ist die Genferin seit letztem Jahr Beraterin beim Schweizer Privatsender Blue Sport TV. Sie ist die erste Frau, die zusammen mit ehemaligen Spielern der Super League das Fussball-Geschehen kommentiert, analysiert und erläutert: «Dass ich eine Frau in einer Männerwelt bin, daran denke ich gar nicht», versichert sie.
Nie hat mir jemand das Gefühl gegeben, ich sei am falschen Platz. Ich liebe es, mit anderen Fussballfans über Fussball zu sprechen. Ich erhalte gute Rückmeldungen, es läuft sehr gut.
Vor ihrer erfolgreichen internationalen Karriere in Italien und Spanien hatte Sandy Maendly, wie Gaëlle Thalmann, im Alter von zehn Jahren in einer gemischten Mannschaft in Grand-Lancy mit dem Fussballspielen begonnen. «Wir waren nur zwei Mädchen in einem Jungenteam», erinnert sie sich. «Die Leute riefen manchmal: ‹Schau, da ist ein Mädchen›. Das Klischee vom Tomboy kam mir natürlich zu Ohren, zumal ich ziemlich kurze Haare hatte. Aber im Grunde war es mir egal. Heute ist der Frauenfussball in der Öffentlichkeit angekommen.»
In der vergangenen Saison lockten zwei Spiele der Frauenmannschaft Barcelonas gegen Real Madrid und Wolfsburg in der Champions League mehr als 90’000 Zuschauerinnen und Zuschauer ins Stadion Camp Nou – ein Rekord. Bei der letzten EM in England waren die Einschaltquoten doppelt so hoch wie bei der EM 2017 in Holland. Das Interesse am Frauenfussball wächst auch, weil in Sachen Technik und Taktik grosse Fortschritte gemacht wurden. Was das Spektakel betrifft, stehen die Frauen den Männern kaum noch nach. «Das Niveau der internationalen Spiele ist sehr hoch», schwärmte kürzlich Bernard Challandes, ein bekannter Neuenburger Trainer, der unter anderem mit dem FC Zürich Schweizermeister wurde. Ich habe viel Respekt für diese Spielerinnen, denn sie haben in sehr kurzer Zeit enorme Fortschritte gemacht. Sie geben alles auf dem Feld». Sandrine Mauron, Mittelfeldspielerin bei Servette FC Chênois, ortet im Frauenfussball zudem noch gewisse ethische Werte, die im Männerfussball, wo das Geld eine zentrale Rolle spielt, etwas abhanden gekommen sind. «Wenn bei uns eine Spielerin am Boden liegt, kann man in der Regel davon ausgehen, dass sie wirklich Schmerzen hat», meint sie augenzwinkernd.
Da die Gehälter in der Schweiz zu niedrig sind, spielen die meisten Mitglieder des Frauen-Nationalteams im Ausland, um von ihrem Beruf leben zu können. Einige von ihnen spielen in den besten Teams. Ana Maria Crnogorčević stand diese Saison mit Barcelona im Finale der Champions League; Ramona Bachmann von PSG gilt als eine der besten Stürmerinnen der französischen Liga; und Lia Wälti orchestriert das Spiel von Arsenal in der Premier League, der höchsten englischen Spielklasse. Alisha Lehmann, Flügelspielerin bei Aston Villa, ist ein Sonderfall. Sie ist nicht nur Profispielerin, sondern auch ein Phänomen in den sozialen Netzwerken. Sie hat über 13 Millionen Follower auf Instagram, mehr als Roger Federer. Sandy Maendly, ihre ehemalige Teamkollegin im Schweizer Nationalteam, freut sich: «Offensichtlich spricht Alisha die neue Generation an und ist für Mädchen und Frauen ein Vorbild. Sie zeigt, dass sich Frauenfussball und Glamour nicht ausschliessen. Ausserdem ist sie sehr nett und sorgt oft für Stimmung in der Umkleidekabine.»
Obschon der Frauenfussball gerade en vogue ist, ist das Ziel für Yverdons Club-Präsidentin Linda Vialatte noch nicht erreicht. «An dem Tag, an dem ein kleines Mädchen auf die Frage nach seinem Idol mit Ramona Bachmann und nicht mehr mit Ronaldo oder Messi antwortet, haben wir es geschafft», sagt sie abschliessend.