Mit Algen die Welt ernähren
Sie gab bei Nestlé die Leitung der Abteilung Forschung und Entwicklung für Proteine auf, um ihr eigenes Start-up zu gründen. Die Ingenieurin sieht in einer Mikroalge, die im Dunkeln wächst, das Nahrungsmittel der Zukunft.
Die Gründerin von Golden Chlorella schlug die Hotelfachschule Lausanne als Treffpunkt für unser Gespräch vor, weil es in ihren Terminplan passt. «Ich treffe mich anschliessend mit Studierenden, die eine Diplomarbeit über mein Unternehmen schreiben. Wir wollen unseren Absatz im Ausland fördern», erklärt sie, als wir durch die Gänge gehen, in denen junge Leute aus allen Herren Länder umherschwirren. Nach einer Weile finden wir ein freies Unterrichtszimmer.
Mine Uran ist Pragmatikerin und spricht frei von der Leber weg. Wenn sie eine Idee im Kopf hat, gibt sie Vollgas und lässt sich nicht vom Weg abbringen. Als sie Nestlé den Rücken zukehrte, obwohl sie die Leitung der Forschung und Entwicklung Proteine innehatte, tat sie es ohne Zögern. «Meine Mid-Life-Krise hatte ich bereits hinter mir. Und den Sprung ins kalte Wasser habe ich nie gescheut», sagt sie und lacht. «Ich wollte etwas wirklich Nützliches für die Gesellschaft und die Umwelt tun.»
10 Milliarden hungrige Menschen
Die in Istanbul aufgewachsene Ingenieurin will eine Lösung für die bis 2050 erwartete Lebensmittelkrise bieten. «Alle Fachleute schlagen Alarm. Die 10 Milliarden Menschen, die in 30 Jahren schätzungsweise auf der Erde leben werden, können unmöglich mit ausreichend Protein versorgt werden. Wie kann die Ernährung sichergestellt werden, wenn zwangsläufig weniger Ackerland zur Verfügung steht?» fragt sie sich.
Laut mehreren Regierungsberichten sowie einem im Januar 2019 in der medizinischen Zeitschrift The Lancet erschienenen Artikel, gehen die Fachleute davon aus, dass sich der weltweite Konsum von rotem Fleisch und Zucker halbieren und der Konsum von Obst, Gemüse und Nüssen verdoppeln muss.
Für Mine Uran reicht das nicht. Ihre Lösung liegt nicht in Insekten, Soja oder Ölsaaten, sondern im Meer. Sie entdeckte eine von blossem Auge nicht sichtbare Mikroalge aus der Gattung der Chlorella. Die Algen werden in speziellen Behältern in völliger Dunkelheit gezüchtet, weshalb sie nicht grün, sondern goldfarben sind, und auch nicht den bitteren Geschmack von Chlorophyll haben. «Die Chlorella-Algen werden in einer Fabrik in Portugal fermentiert, fast so wie Bier», erklärt Mine Uran. Die Flüssigkeit wird in einem nächsten Schritt getrocknet und zu einem gelblichen, geschmacklosen Pulver verarbeitet.
Ein Steak besteht aus 25% Protein. Der Rest ist Fett, Ballaststoffe und Kohlenhydrate.
- Mine Uran
«Chlorella besteht zu 65% aus Protein und ist reich an Vitamin B1, B2 und B6 sowie Mineralstoffen, Kalzium, Eisen, Magnesium, Phosphor und Zink. Im Gegensatz zu tierischem Eiweiss wird zur Herstellung von Chlorella 44-mal weniger Wasser und 41-mal weniger Ackerland benötigt, und es entsteht 36% weniger CO2», erklärt sie voller Begeisterung. Ein Steak besteht aus 25% Protein. Der Rest ist Fett, Ballaststoffe und Kohlenhydrate.»
«Wir gingen ein enormes Risiko ein»
Mine Uran ist von ihrer Entdeckung absolut überzeugt und hat die Technologie sogleich patentieren lassen. Majbritt Byskov-Bridges, eine mit Nachhaltigkeitsfonds vertraute Ökonomin aus der Finanzbranche, bewegte Mine Uran dazu, ihre komfortable Position bei Nestlé aufzugeben, um mit ihr ein Start-up zu gründen. Die beiden Frauen hatten sich vor einigen Jahren am Women International Network in Rom kennengelernt.
«Wir gingen ein enormes Risiko ein. Aber im Leben bieten sich eben manchmal Gelegenheiten, die man nutzen muss, weil sie den eigenen Überzeugungen zu 100% entsprechen», sagt Mine Uran und wirft ihrer Mitbegründerin einen komplizenhaften Blick zu. 2016 gründeten die beiden das Start-up-Unternehmen Golden Chlorella und die Marke Alver. Bei einer Crowdfunding-Kampagne auf der Investitionsplattform Raizers kamen 288’000 Franken zusammen.
Heute erwirtschaftet das Unternehmen einen Umsatz von 300'000 Franken und verkauft seine Produkte über seine Website sowie in Dutzenden von Apotheken und Fachgeschäften. Das Pulver wird «pur» oder verarbeitet in Teigwaren, Suppen, Getreideriegeln und Saucen verkauft. Bei Partnern wie Takinoa und Manor wird das Pulver ausserdem für die Zubereitung gewisser Gerichte verwendet.
Steak und Müesli auf Algenbasis
«Mit der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich arbeiten wir an der Entwicklung eines Steaks auf Chlorellabasis. Im März 2019 kommt auch ein Müesli auf den Markt», sagt die Vegetarierin, die nicht nur Veganer, sondern auch Flexitarier überzeugen will – letztere essen nur wenig Fleisch und Fisch. «Wir wollen unsere Produkte auch in Deutschland und Grossbritannien vertreiben», kündigt Mine Uran an.
Deutschland kennt sie gut, weil sie dort ihr Ingenieurstudium abgeschlossen hat. «Ich war sehr überrascht, dass ich die einzige Frau in den Vorlesungen war. An der Bosporus-Universität in Istanbul gab es ebenso viele Frauen wie Männer in den Fächern Mathematik und Physik.»
Ein Land in der «Pubertätskrise»
Mine Uran und ihre Schwester wuchsen in einem fortschrittlichen und gleichberechtigten Umfeld auf. «Meine Eltern hielten mich nie zurück und ermutigten mich, zu studieren. Sie selber erlebten die Türkei unter Präsident Mustafa Kemal Atatürk, der das Frauenstimmrecht einführte und den Säkularismus in der Verfassung verankerte. Ich verbrachte bestimmt eine viel modernere Jugend als so manche Europäerin oder mancher Europäer», sagt sie rückblickend. Sie besucht ihre alte Heimat regelmässig und findet, das Land durchlebe gerade eine «Pubertätskrise».
Heute lebt die Mutter von drei Söhnen, die ihr Leben lang gearbeitet hat, in Chardonne im Kanton Waadt. Ihre berufliche Karriere machte sie bei Unilever, DuPont und Nestlé. «Auf die Arbeit zu verzichten, nur um meine Kinder grosszuziehen, wäre eine Verschwendung gewesen», sagt sie unumwunden und fügt sogleich mit einem Lächeln hinzu: «Ich habe mich immer gut um meine Jungs gekümmert und ihnen ausgewogene Mahlzeiten gekocht. Dass sie heute alle grösser als ich sind, ist der Beweis!»
Profil
2016 Gründung Golden Chlorella
2013 Eintritt bei Nestlé als Leiterin Forschung und Entwicklung Proteine
1998 Eintritt bei DuPont
Der Artikel erschien ursprünglich in der Westschweizer Zeitung Le Temps.
Autor: Ghislaine Bloch