Kevin Germanier © Le Temps

Kevin Germanier, Designer mit Umweltbewusstsein

Vergessen Sie den Jute-Look! Mit seinen ultraglamourösen Silhouetten aus recycelten Textilien bringt der Walliser Designer Kevin Germanier frischen Wind in die nachhaltige Modeszene.

An der MET-Gala 2019 in New York, dem angesagtesten Event im amerikanischen Fashionkalender, sorgte das brasilianische Model Isabelle Boemeke für grosses Aufsehen in einem skulpturalen Kleid aus transparentem Tüll, Paillettenbändern und extravaganten Volants in fluoreszierendem Pink. Dass das Glitzerkleid vollständig aus Textilabfällen gefertigt war, machte die Sache umso glamouröser. Schöpfer des Outfits war der 27-jährige Kevin Germanier, Halbfinalist des LVMH-Preises 2019 für Nachwuchsdesigner. Der Walliser, der heute in Paris lebt, absolvierte die Hochschule für Kunst und Design in Genf und das prestigeträchtige Central Saint Martins College in London. Mit seinen glamourösen, maximalistischen Kreationen sorgt er für einen völlig neuen Look in der nachhaltigen Modeszene, ohne je ins Lächerliche zu fallen oder Untragbares zu schaffen. Fernab vom roten Teppich kreiert er auch Jeans, T-Shirts und Taschen für sein Upcycling-Label Germanier, das er 2018 neben einem Praktikum bei Louis Vuitton gründete. Seine «fadenlose Stickerei», eine einzigartige Technik, die Silikon mit weissem Essig kombiniert, ist nur eine von vielen Arten, gebrauchte Textilien neu zu gestalten.
Obwohl das Label noch nicht einmal zwei Jahre alt ist, wurden Germaniers Kreationen bereits von Stars wie Björk, Beyoncé, Lady Gaga und K-Pop-Superstar Sunmi getragen. Die Frühjahr-Sommer-Kollektion 2020, die Germanier während der Pariser Modewoche präsentierte, war eine flammende Hommage an Sailor Moon, die Muse des Designers. In einer Explosion von poppigen Farbtönen, Strass und Bändern erinnerte Germanier an die Macht der Mangaheldin aus den frühen 1990er-Jahren. «Zum ersten Mal wurde in Japan eine weibliche Figur ohne Mann, ob nun Bruder oder Ehemann, dargestellt. Sailor Moon hat gezeigt, dass Frauen nicht nur Mütter, sondern auch moderne Heldinnen sein können.» Ein Gespräch mit dem originellen Designer.

Stil von Kevin Germanier © Alexandre Haefeli

Was ist der Ausgangspunkt einer Germanier-Kollektion? 

Ich habe keine vorgefassten Ideen; ich gehe immer von den Stoffen und Materialien aus, die ich finde. Ich war noch nie auf einer grossen Textilmesse, das passt nicht zu mir. 

Stil von Kevin Germanier © Alexandre Haefeli
Stil von Kevin Germanier © Alexandre Haefeli

Ich mag Dreck an den Füssen, gehe gerne in Fabriken, Lagerhäuser, auf Märkte, durchstöbere Abfälle, etwa Stoffe aus Lagerräumungen oder Kleider, die in der Verbrennungsanlage landen würden. Wir haben Lieferanten auf der ganzen Welt, in Paris, Schanghai, der Schweiz und in Südkorea. Wir haben Leute, die verstehen, was wir tun. Wenn wir die Textilabfälle zusammen haben, schauen wir, was zusammenpassen könnte, hier eine Brosche, dort Pailletten oder karierter Stoff. Mit dem Schweizer Fotografen Alexander Haefeli fotografieren wir verschiedene Kombinationen, und die Bilder werden dann wieder zu Inspirationen. Dieser hausinterne Prozess trägt zur Offenheit und Originalität unserer Arbeit bei.

Paris © Le Temps
Paris © Le Temps

Waren Sie schon immer so improvisationsfreudig? 

Ich sage immer, wenn man sich an das Zeit- und Geldbudget hält, kommt man nicht weit. Als ich in das Central Saint Martins College aufgenommen wurde, musste ich mich selber um die Finanzierung kümmern. Allein die Studiengebühren beliefen sich auf 9000 Pfund pro Jahr während vier Jahren. Ich schickte 63 Briefe an verschiedene Institutionen und brachte das Geld schliesslich zusammen. Die Lebenshaltungskosten in London waren sehr hoch, und ich hatte nur wenig Geld. 

Kevin Germanier © Le Temps
Kevin Germanier © Le Temps

Also fing ich an, alte Stoffe zu kaufen, die achtmal billiger waren als neue. Um ehrlich zu sein, verwendete ich also nicht Textilabfälle, weil ich die Welt retten wollte, sondern aus dem einfachen Grund, dass ich kein Geld hatte. Aber ich bereue es nicht, denn die Hindernisse haben meinen schöpferischen Prozess bereichert.

Wann kamen die ökologischen Überlegungen dazu? 

Im Jahr 2015, als ich noch studierte, gewann ich in Hongkong den EcoChic Design Award [heute Redress Design Award]. Das ist eine Auszeichnung für eine umweltfreundliche Textilindustrie. Für meine Kollektion verwendete ich Militärdecken der Schweizer Armee, die mein Vater, der Oberstleutnant im Wallis ist, von Soldaten beschafft hatte. Es machte Spass, diesen dicken, juckenden Stoff mit ultraglamourösen Silhouetten zu kombinieren. Von da an steckte man mich in die «Upcycling»-Schublade. Ich machte ein sechsmonatiges Praktikum in Hongkong, wo es diesen Schlüsselmoment gab: Eines Tages sah ich auf einem Markt, wie ein Händler ein Loch in den Boden grub, um Glasperlen, die niemand wollte, zu entsorgen. Die Perlen erinnerten mich an die Materialien, die John Galliano bei Dior verwendete, und an die Kreationen von Robert Piguet, den ich im Modemuseum in Yverdon, das Piguet gewidmet ist, so bewundert hatte. Was für mich der Inbegriff von Raffinesse war, wurde hier als gewöhnlicher Abfall weggeworfen. Das fand ich sehr traurig. Ich überredete den Händler, mir die Perlen zu überlassen, die zu einem wichtigen Bestandteil meiner ersten Kollektion wurden.

Germanier Kollektion © Le Temps
Germanier Kollektion © Le Temps

Im Gegensatz zu vielen anderen Designern machen Sie nicht aus Marketinggründen Upcycling. Warum das? 

Ich glaube nicht, dass das nötig ist. Je mehr wir uns so verhalten, als sei das normal, desto mehr Menschen finden es selbstverständlich, dass man über den eigenen Konsum nachdenkt. Unsere Kundinnen wählen nicht Germanier, weil wir ein «Upcycling»-Schild dranhängen, sondern weil ihnen unsere Ästhetik gefällt. Ich versuche, gewisse Klischees aufzubrechen, etwa das Vorurteil, dass nachhaltige Mode weite Sackkleider aus Baumwolle oder Jute bedeutet. 

Germanier Kollektion © Le Temps
Germanier Kollektion © Le Temps

Ich zeige, dass es auch anders geht, dass ein nachhaltiges Kleid reich bestickt, aus Tüll, Seide oder Spitze sein kann und eine feminine, sexy Silhouette haben kann. Und ich lasse meine Kollektionen in Schanghai produzieren, damit die Leute aufhören zu denken, «Made in China» sei gleichbedeutend mit schlechter Qualität und ausgebeuteten Kindern. Ich kenne die Fabrik, mit der wir zusammenarbeiten, sehr gut; ich besuche sie oft und kenne die Leute dort.

Ist das Nachhaltigkeitsgerede der Modelabels leeres Geschwätz? 

Nein, es gibt viele Designer, die diesen Anspruch von Anfang an hatten und sehr tolle Sachen machen, wie etwa Stella McCartney oder Vivienne Westwood. Aber es gibt diese oberflächlichen Floskeln, die mir die Haare zu Berge stehen lassen, weil sie die Vorstellung zementieren, wonach nachhaltige Mode ein Trend ist. Gleichzeitig organisiert man weiterhin Modeschauen am anderen Ende der Welt und fliegt Redner im Privatjet für ein Umweltsymposium ein. 

Stil von Kevin Germanier © Le Temps
Stil von Kevin Germanier © Le Temps

Das ist heuchlerisch, das sind leere Worte. Es braucht konkrete Massnahmen der grossen Akteure der Branche, die mehr Einfluss haben als unabhängige Labels wie wir.

Die Luxusindustrie stösst bei der Öffentlichkeit immer mehr auf Ablehnung, vor allem wegen Umweltfragen. Wie stehen Sie dazu? 

Ich bin gespalten. Natürlich gibt es eine Überproduktion an Kleidern, und es ist absurd, dass die Leute ständig dazu gedrängt werden, ihre Garderobe zu wechseln. Gleichzeitig ist es Sache der Konsumenten, Verantwortung zu übernehmen, sich zu informieren und ihr Verhalten zu ändern. Und man muss den grossen Modehäusern auch Zeit geben, damit sie Reformen ergreifen können. Ich habe selbst bei Louis Vuitton gearbeitet und weiss, dass es nicht am Willen mangelt. Aber es ist sehr kompliziert, globale Unternehmen dieser Grösse neu auszurichten. Aber sie werden es schrittweise schaffen.

Stil von Kevin Germanier © Le Temps
Stil von Kevin Germanier © Le Temps

Als unabhängiges Label bleibt es Ihr Ziel zu wachsen. Haben Sie sich diesbezüglich eine Obergrenze gegeben? 

Solange ich mit dem, was bereits vorhanden ist und vernichtet werden soll, Kleider produziere, gibt es meiner Meinung nach kein Problem. Und ich hoffe, dass die Kundinnen, die meine Kreationen kaufen, diese nicht wegwerfen, sondern weitergeben.

Was raten Sie einem aufstrebenden Jungdesigner? 

Das ist eine schwierige Frage. Als ich anfing, habe ich ja selber nicht alle Ratschläge befolgt. Ich würde aber dazu raten, sich selbst zu bleiben und nicht zu sehr auf andere zu hören, wenn man in der Modebranche überleben will. Wichtig ist auch, bescheiden und freundlich zu bleiben, auch wenn das jetzt vielleicht kitschig klingt. Ich versuche zudem, mit dem Klischee des Designers als Diva aufzuräumen. Wer sein Ego nicht in den Mittelpunkt stellt, kann meiner Meinung nach eine nachhaltigere Karriere aufbauen.

Kevin Germanier © Le Temps
Kevin Germanier © Le Temps

 

Erschienen im November 2019 in der Zeitung Le Temps.
Text: Séverine Saas