Sport während lockdown © Unsplash/@single_lens_reflex

Lockdown: Zwischen Anspannung und Entspannung – unsere Champions erfinden sich neu

Wie bewältigen Schweizer Sportlerinnen und Sportler die Enttäuschung über abgesagte Wettkämpfe? Nachfolgend erzählen sie aus ihrem aktuellen Leben zwischen Relaxen, Training und neuen Leidenschaften.

Stan Wawrinka: Apéro-Highlights

In dieser langen Corona-Zwangspause zeigt Stan Wawrinka, der 35-jährige Tennisstar und Gewinner von drei Grand-Slam-Turnieren, ganz neue Seiten von sich: Während er normalerweise seriös und eher zurückgezogen lebt, kommen beim Waadtländer nun Humor, Selbstironie und Savoir-vivre zum Vorschein. Mehrmals pro Woche war er live auf Instagram zu sehen, wo er mit seinem französischen Tour-Kollegen, Benoît Paire, Lieblingscocktails verriet, über dies und das diskutierte und von der Tenniswelt erzählte. Diese «Lives», die «Stanpairo» getauft wurden, verfolgten durchschnittlich gegen 10 000 Personen. Stan war bei sich zu Hause, oberhalb von Lutry (Waadt), und Paire in Marseille. Manchmal endete das Ganze ziemlich angeheitert, immer sehr lustig, begleitet von Blackrussian oder Caipirinha. «Dein Glas sieht ziemlich gross aus, hast du genügend Eiswürfel?», meint Stan zu Beginn eines Lives. Und später: «Wir haben schon 40 Minuten geschwatzt und erst zwei Gläser getrunken. Heute sind wir ganz zahm.» 

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Zu diesen spontanen Lives meinte Wawrinka in der Zeitschrift «L’Équipe»: «Wir sind da ganz uns selber, Benoît und ich. Wir erzählen uns Anekdoten, machen Spässchen und lassen die Leute in unsere Welt eintreten. Wir sprechen offen, wie wenn wir nur zu zweit wären, und haben Spass. Wir sind Spitzensportler, aber auch Geniesser.» Mit der gleichen Haltung hat Stan auch zahlreiche augenzwinkernde und ironische Posts veröffentlicht. Zum Beispiel allein vor einem Fondue-Caquelon mit dem Titel: «Wenn ich schon zu Hause sitze, kann ich wenigstens ein gutes Fondue essen.» Das Training hat er fern der Courts nicht allzu stark forciert. «Ich werde mich dann intensiv vorbereiten und wieder meine Bestform erreichen, wenn wir wissen, wie’s weitergeht. Im Moment halte ich mich körperlich fit, aber ich gehe nicht an meine Grenzen. Ich bin ziemlich relaxed.»

Der Romand hat sich sehr gut mit seinem Leben ohne Tennis arrangiert.

Ich komme gut damit zurecht, ich bin ja auch privilegiert. Ich kann Zeit mit meiner Tochter verbringen und ihr mit der Schule helfen. Und ich erhole mich. Ich stehe am Ende meiner Karriere, es bleibt mir nicht mehr viel Zeit, aber ich bin nicht im Stress. Ich habe viel mehr erreicht, als ich mir je vorstellen konnte. Ich habe fast alles gewonnen, was möglich ist. Und das Ziel meiner Karriere war es immer, am Tag meines Rücktritts nichts zu bereuen,

erzählte er zum Klang klirrender Eiswürfel.

Stanislas Wawrinka Wimbledon 2013 © Wikipedia
Stanislas Wawrinka Wimbledon 2013 © Wikipedia

Steve Guerdat: Ohne Stress die Freude an den Pferden geniessen

Man würde denken, dass unsere Sportgrössen frustriert sind, dass ihnen das Adrenalin fehlt, wenn plötzlich keine Wettkämpfe mehr stattfinden. Doch beim Jurassier Steve Guerdat, Olympiasieger im Springreiten von London 2012, ist das nicht der Fall. In einer seiner stets sehr geistreichen Kolumnen in der Sonntagsausgabe der Zeitung «Le Matin» erzählt er, dass er diese Zeit als willkommene Pause erlebt, weit weg vom permanenten Wettkampfstress. «Natürlich fehlt mir der Sport», schrieb er da, «wir warten und wissen nicht, wann der nächste Concours stattfindet, aber ich habe das Glück, das tun zu können, was ich liebe. Ich reite jeden Tag. Ich bin an der frischen Luft und privilegiert. Abgesehen von dieser dramatischen Situation würde ich sogar sagen, dass diese Zeit für mich persönlich angenehm ist, weil ich zu Hause bin, ohne Stress, wo ich auftanken und über vieles nachdenken kann.» Als wir ihn an seinem Wohnort in Zürich kontaktieren, bestätigt er uns diesen Eindruck.

Es gibt mir Gelegenheit, zu den Wurzeln meiner Leidenschaft zurückzukehren. Die Liebe zu den Pferden war mir immer viel wichtiger als der Wettkampf selber. 

In seinen Beiträgen schrieb er auch, dass «es im Leben wichtigere Dinge gibt als die Jagd nach Geld.» Auch diese Einsicht bekräftigt er. «Natürlich ist mir Geld nicht egal, aber ich finde es schade, dass es im Sport zur einzigen Priorität geworden ist. Wenn wir von einem gelungenen Leben sprechen, sollte Geld nicht das einzige Kriterium sein.» Er sinniert, dass diese Krise eine Lehre für unsere Gesellschaft sein sollte. «Seit Jahren ereigneten sich Katastrophen immer weit weg von uns. Deshalb verschlossen wir die Augen, es war uns ziemlich egal. Heute sind wir uns bewusster, wie privilegiert wir sind. Aus jeder Erfahrung im Sport und im Leben können wir lernen.» Jetzt geht es darum, die eigenen Ängste zu besiegen. «Wir müssen lernen, mit dem Virus zu leben, denn das Leben ist gemacht, um zu leben, nicht, um zu überleben. » Der Sport spielt dabei eine wichtige Rolle, da «er ein Spektakel mit magischen Momenten und unglaublicher Freude beschert.»

Steve Guerdat und Nino des Buissonnets © Wikipedia
Steve Guerdat und Nino des Buissonnets © Wikipedia

Mujinga Kambundji: Wehmut über Tokio 

Mujinga Kambundji © Wikipedia
Mujinga Kambundji © Wikipedia

Die Bronzemedaillengewinnerin über 200m Sprint an den letzten Weltmeisterschaften in Doha durfte sich Hoffnungen auf einen Podestplatz an der Olympiade in Tokio machen. Der Aufschub der Spiele trifft die Bernerin hart. 

Das ist eine grosse Enttäuschung, ich habe mich so gefreut, 

vertraute sie sich kürzlich der Zeitung «24 heures» an. Und ergänzte: «Wenn die geplante Zeit näherrückt (24. Juli bis 9. August 2020), wird es merkwürdig sein. Ehrlich gesagt weiss ich nicht, wie ich das empfinden werde, aber ich denke, dass es schwierig wird. Diesen Sommer habe ich erstmals seit zehn Jahren keinen grossen Wettkampf.» Trotz Virus und Lockdown konnte sie fast vollständig normal trainieren. «Ich konnte in einem kleinen Stadion laufen, das nur drei Minuten von mir entfernt ist. Es ist unmöglich, den Körper 2020 ruhen zu lassen, wenn man 2021 in Form sein will. Ich trainiere weiterhin systematisch und seriös.» Die unerwartete freie Zeit hat sie genutzt, um ihr 2017 auf Eis gelegtes Wirtschaftsstudium wiederaufzunehmen. «Eine produktive Art, etwas anderes zu machen, sich in anderen Bereichen zu verbessern. Auch ohne Rennen behalte ich meinen Wettkampfgeist.» Die Krise sieht sie philosophisch. «Aus schwierigen Momenten lernt man immer etwas. Diese Krise ruft uns in Erinnerung, dass im Leben nicht immer alles so läuft, wie wir es möchten, dass wir aber immer weiterkommen können.»

Daniel Yule: Erholung im Val Ferret

Er ist die Entdeckung der letzten Skisaison, gewann drei Weltcup-Slaloms und war bis zum Schluss im Rennen um die Disziplinenkugel im Slalom – für den Walliser Daniel Yule kam der vorzeitige Saisonabbruch zur Unzeit. «Ich war nahe dran, und anfangs war das frustrierend, umso mehr, als sich nicht tausende solcher Gelegenheiten bieten werden», bedauert er. 

Doch ich habe schnell relativiert. Anders als in Sportarten wie Tennis oder Leichtathletik, die fast ein ganzes Jahr verloren haben, konnten wir Skifahrer die Saison beinahe beenden. Wir gehören zu den Privilegierten.

Seither hat sein Trainingsprogramm praktisch nicht unter der Krise gelitten. «Wie immer nach einer Saison habe ich zuerst drei Wochen auf dem Sofa mit Ausruhen und Farniente verbracht, weil ich so ausgepowert war. Jetzt trainiere ich wieder draussen mit Vorbereitungsblöcken – zum Glück mitten in der Natur im Val Ferret, wo ich wohne. Ausserdem habe ich nach der Wiedereröffnung der Golfplätze mit Freunden gespielt – zum Spass und ohne sportliche Ambitionen. Ich bin ausserdem umgezogen, was auch Zeit braucht, aber dem Val Ferret treu geblieben.»
Für ihn, dem Umweltschutz sehr am Herzen liegt, hatte die Krise neben allem Unangenehmen auch Positives. «Wir haben gelernt, das zu schätzen, was wir haben, und begriffen, dass wir nicht unbedingt mehr brauchen. Ich habe bedauert, dass die Sportplätze geschlossen und die sozialen Beziehungen eingeschränkt waren, aber viele Dinge fehlten mir überhaupt nicht, zum Beispiel die Flugreisen. Ich hatte nicht das Gefühl, dass die Leute hier besonders unglücklich waren. Für die Zukunft wünsche ich mir, dass ich positive Überraschungen schaffe.»

Daniel Yule © Wikipedia
Daniel Yule © Wikipedia

Sébastien Reichenbach: Garten statt Gipfel

Wenn alles gut geht, wird Sébastien Reichenbach, amtierender Schweizer Meister und Bergspezialist, am ersten sportlichen Grossanlass nach dem Virus starten: an der auf Anfang September verschobenen Tour de France. Er wird im Team des Franzosen Thibaut Pinot starten, einem der Hauptfavoriten. «Es geht vorwärts, die Chancen stehen sehr gut, dass es klappt, glaube ich. Es ist nicht mein Lieblingsrennen, aber gerade deshalb muss ich besonders leistungsfähig sein», erklärt uns der Walliser. Er hielt sich an die Schutzmassnahmen und verbrachte er mehr als einen Monat zu Hause auf dem Hometrainer. Seit April fährt er wieder draussen. Wir treffen ihn nach einem Training am rechten Rhone-Ufer oberhalb von Montana, in gegen 1800 Metern Höhe. «Ich fahre vier bis fünf Stunden pro Tag. Die Pässe haben langsam wieder aufgemacht, das ist erfreulich. Im Vergleich zu den Franzosen und Italienern, die zwei Monate zu Hause eingeschlossen waren, hatte ich Glück.» Auch im täglichen Leben fühlt er sich privilegiert.

Niemand in meiner Familie war betroffen, und unsere Situation ist doch weniger dramatisch als bei Selbständigen.

Anstelle der Wettkämpfe hat er seiner anderen Leidenschaft gefrönt, der Gartenarbeit. «Mein Bruder hat einen schönen Garten in Bramois. Zwischen den Rennen gehe ich da kaum hin, weil ich mich ausruhen muss. Jetzt war ich jeden Tag da. Diese ganze freie Zeit, das war genial. Wir machen Permakultur. Nach dem Salat und dem Kohl setzten wir nach den Eisheiligen Tomaten.» Die Krise hatte in seinen Augen Positives, da sie es erlaubte «die einfachen Dinge im Leben neu zu entdecken. Heute haben die Leute wieder Lust, Sport zu treiben und Aktivitäten nachzugehen, die sie zusammenbringen. Ich habe mit Velohändlern gesprochen, diese haben noch nie einen solchen Ansturm erlebt.»

Sébastien Reichenbach © Wikipedia
Sébastien Reichenbach © Wikipedia

 

Cover image: Sport während lockdown © Unsplash/@single_lens_reflex

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