Swiss Style forever – Die Entstehungsgeschichte einer grafischen Tradition
Konzeptuelle Stärke, formale Prägnanz und technische Präzision: Dies sind die Kennzeichen der Schweizer Grafik und Typografie, die weltweit einen ausgezeichneten Ruf geniessen. Sie sind das Ergebnis einer anhaltenden soliden Berufsausbildung und gewerblichen Praxis. Unter dem Label «Swiss Style» erlangte das Schweizer Grafikdesign in den 1950er- und 1960er-Jahren internationale Bekanntheit und wurde zu einem erfolgreichen Exportgut. Ein Blick auf die Geschichte zeigt, wie es zum «Swiss Style» kam und warum dieser noch heute Gültigkeit besitzt.
Ein Berufsbild entsteht
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es den Beruf des Grafikers und der Grafikerin noch nicht. Plakate und Zeitschriftentitel wurden oft von Künstlern entworfen, die damit ihr tägliches Brot verdienten. Die Layouts von kleinen Drucksachen und Büchern vertraute man spezialisierten Druckereien an. Erste Lehrgänge für «Angewandte Grafik», in die der Schriftunterricht integriert war, richteten ab 1915 die (Kunst-)Gewerbeschulen in Basel und Zürich ein. Daraus gingen später die Fachklassen für Grafik des dualen Systems hervor, die bald schweizweit eingeführt wurden. Die Ausbildung konnte sowohl in einer Tagesfachklasse mit Werkstattunterricht oder in Form einer Betriebslehre mit ergänzendem Schul- und Werkstattunterricht absolviert werden. Zugang zu der Fachausbildung bot ein allgemeiner gestalterischer Vorkurs, den es schon lange vor dem Bauhaus-Vorkurs gab und der in zeitgemässer Form noch heute existiert.
Aufbruch in die Moderne
Wichtige Impulse für die Entwicklung des grafischen Gewerbes in der Schweiz vermittelte der 1913 nach deutschem Vorbild gegründete Schweizerische Werkbund (SWB). Seine Mission galt der Verbesserung der technischen und formalen Qualität der einheimischen Produkte und deren Vermarktung. In den 1920er-Jahren förderte der SWB die funktionale Industrieform und trug in enger Verbindung mit der Zürcher Kunstgewerbeschule zur Herausbildung eines modernen Grafikdesigns bei. Als dessen Mitbegründer gilt Ernst Keller, Leiter der Zürcher Grafikklasse von 1920 bis 1956. Sein Unterricht prägte namhafte Schriftgestalter wie Hans Eduard Meier (Syntax) und bekannte Grafikerinnen und Grafiker wie Richard Paul Lohse, Hermann Eidenbenz und Lora Lamm, die ganz unterschiedliche Stile entwickelten. Eine noch grössere gestalterische Vielfalt zeichnete die Basler Gewerbeschule aus.
Etablierung der konstruktiven Schweizer Grafik
Während sich im Konsumplakat eine illustrative Grafik weiterhin behaupten konnte, setzte sich die konstruktive Grafik langfristig in allen anderen Medien durch: Publikationen, Wortmarken, Signete usw. Die konstruktiv Gestaltenden, die mit Satzschriften und Fotografie arbeiteten, waren die versierteren Typografen, Layouter und Fotografiker als die mit dem Pinsel vertrauten Illustrativen. Auch ebnete eine verbesserte Druckqualität des fotografischen Bilds der Fotografik den Weg. Richard Paul Lohse und der Texter Hans Neuburg, die um 1929 in der Zürcher Werbeagentur Max Dalang auf den Bochumer Industriegrafiker Anton Stankowski trafen, lernten von diesem das Handwerk der Fotomontage. Darauf und auf dem europäischen Konstruktivismus aufbauend, entwickelten Lohse, Neuburg und ihr Zürcher Kollege Max Bill bis zur Jahrhundertmitte ein eigenständiges, der konkreten Kunst verpflichtetes, strenges Grafikdesign. Bill schuf zudem in den späten 1930er-Jahren das erste echte Layout-Rastersystem.
Exportschlager «Swiss Style»
In den 1950er- und 1960er-Jahren erreichten die Schweizer Grafik und Typografie internationale Bekanntheit. Ihre Epizentren lagen in Basel und Zürich: Armin Hofmann und Emil Ruder wirkten als prägende Lehrer der Basler Schule, ihre Lehrbücher wurden weltweit gelesen. In Zürich publizierten Lohse, Neuburg, Josef Müller-Brockmann und Carlo Vivarelli ihre vielbeachtete dreisprachige Zeitschrift Neue Grafik. Die Arbeiten dieser Gestalter wurden im Ausland als «Swiss Style» rezipiert. Dieser Stil zeichnete sich aus durch eine auf das Wesentliche reduzierte Formensprache, den Einsatz von Fotografie und grafischen Symbolen, sparsame Farbigkeit, serifenlose Schriften und asymmetrische Layouts. Die strengen Zürcher waren zudem Verfechter eines Layout-Rasters, den die Basler eher situativ einsetzten, und zogen die von Max Miedinger entworfene Schrift «Helvetica» der in Basel beliebten «Univers» von Adrian Frutiger vor. Beide Schriften kamen 1957 auf den Markt und wurden zum Exportschlager. Der «Swiss Style» stiess mit seiner Klarheit und scheinbar einfachen Anwendbarkeit auf internationale Resonanz, denn er entsprach dem wachsenden Bedürfnis grosser Konzerne nach einer effizienten, sachlichen und präzisen visuellen Kommunikation.
Konstruktives Erbe
Der «Swiss Style» ist ein Evergreen und weit mehr als nur ein Stil. Ihm liegen eine rationale Haltung und ein methodisches oder gar mathematisches Vorgehen zugrunde. Dies zeigt beispielsweise das visuelle Informationssystem für die Schweizerischen Bundesbahnen (SBB), welches Müller-Brockmann und Peter Spalinger ab 1978 konzipierten. Dank seines modularen Aufbaus und seiner klaren Erscheinung ist es noch heute gültig. Ebenso das hierin integrierte SBB-Signet: Mit dem konstruierten weissen Doppelpfeil auf rotem Grund, dem die Symbolkraft einer Nationalflagge zukommt, hat es sich zu einer einprägsamen Marke entwickelt. Aktuelle Ateliers wie Experimental Jetset, Norm, Julia Born und Laurenz Brunner schätzen die Vorzüge der konstruktiven Schweizer Grafik und ihrer glasklaren Schriften und nutzen sie für die Entwicklung eigener Projekte. Doch nicht nur sie! Komplexe Erscheinungsbilder, Infografiken und Orientierungssysteme: sie alle bauen auf diesem konstruktiven Erbe auf.
Cover image: Atelier Josef Müller-Brockmann, Schindler Speedwalk Rollteppich, Prospekt offen, ca. 1962, Aufzüge- und Elektromotorenfabrik Schindler & Cie. Ebikon, © Museum für Gestaltung Zürich, Grafiksammlung / ZHdK / ProLitteris
Lead image: Fotoklasse, Kunstgewerbeschule Zürich, Unterricht Fachklasse für Grafik, 1930er-Jahre, Foto: © ZHdK, Archiv Zürcher Hochschule der Künste