Joseph Favre, Schweizer Pionier der hochkarätigen Kulinarik
Der Koch und Kulinarikautor Joseph Favre war der breiten Öffentlichkeit bisher weitgehend unbekannt. Nun findet er endlich den ihm gebührenden Platz in der Geschichte des Kochens.
Der Walliser Joseph Favre (1844–1903) bereiste ab 1865 Europa und arbeitete in verschiedenen berühmten Restaurants als Koch, um sein Talent zu vervollkommnen. 1883 liess er sich in der Nähe von Paris nieder. Der ungewöhnliche, selbstbewusste und belesene Walliser führte die Küchenhygiene als Wissenschaft ein, verfasste das erste Universallexikon des Kochens und der Lebensmittelhygiene und gründete die «Académie culinaire de France». Erst ein knappes Jahrhundert später wird seine Arbeit gebührend gewürdigt. Zu Ehren des Wallisers wurde der Grand Prix Joseph Favre ins Leben gerufen, dessen zweite Ausgabe am Sonntag, 25. November 2018, im CERM in Martigny stattfindet. Der hochkarätige Kochwettbewerb wird alle zwei Jahre durchgeführt. Jede Ausgabe vereint fünf ausgewählte Kandidatinnen und Kandidaten, eine renommierte europäische Jury und ein Publikum von tausend Personen, bestehend aus Feinschmeckern und Persönlichkeiten aus der Schweizer Gastronomie und Hotellerie.
Lehrjahre und Perfektionierung
Jospeh Favre wurde am 22. Februar 1844 in Vex geboren und absolvierte in Sitten eine Ausbildung zum Koch. 1865 begab er sich auf eine Reise durch Europa, die ihn erst nach Paris, dann nach Wiesbaden und London und schliesslich zurück nach Paris führte. 1872 kehrte er in die Schweiz zurück. Er arbeitete unter anderem in Lausanne, Clarens, Freiburg, Lugano, Basel, Bex und auf der Rigi. 1880 ging er erneut ins Ausland, erst nach Berlin, dann nach Kassel. Schliesslich liess er sich in der Nähe von Paris nieder.
Politische Tätigkeit und Rückkehr zur Kochkunst
Joseph Favre engagierte sich auch in der Politik. 1872 trat er der Juraföderation bei, einer anarchistischen Bewegung der damaligen Zeit. Er begegnete Michail Bakunin, der in den Kanton Tessin geflohen war, und kreierte für ihn anlässlich eines Essens mit bedeutenden Persönlichkeiten des Libertarismus wie Errico Malatesta, Elisée Reclus und Arthur Arnould den Salvator-Pudding. Die politische Tätigkeit Favres lässt sich mit folgendem Leitsatz zusammenfassen: Politische Philosophie umfasst immer auch praktische Philosophie. Mit zwei weiteren Aktivisten gründete er die Zeitschrift «L’Agitatore», die zwei Monate lang erschien. Seine politische Karriere war allerdings von kurzer Dauer. 1876 widersetzte er sich gemeinsam mit seinem alten Gefährten Benoît Malon dem Insurrektionalismus der italienischen Anarchisten. Kurze Zeit später verliess er die Antiautoritäre Internationale und zog sich allmählich aus der Politik zurück.
Gründung der Zeitschrift «La Science culinaire» und erste Artikel zur Küchenhygiene
1878 publizierte Joseph Favre die erste wöchentlich erscheinende Kochzeitschrift, die von einem Koch verfasst wurde. Während sechs Jahren widmete er einen grossen Teil seiner Freizeit und seiner Energie dem Verfassen dieser Zeitschrift. Er vermittelte darin seine Vorstellungen einer fortschrittlichen Kochkunst und führte damals völlig neuartige Regeln der Küchenhygiene ein, die sämtliche Aspekte der allgemeinen und medizinischen Hygiene aus der Sicht eines Kochs abdeckten. Zur Küchenhygiene gehören beispielsweise die Frische und die Qualität der verarbeiteten Lebensmittel sowie deren Nutzen für die Gesundheit. Zeitlebens widmete Joseph Favre dieser Problematik unzählige Texte. Kochkunst ist gut, Kochwissenschaft ist besser, Küchenhygiene jedoch wurde zu seinem Lebenszweck.
Idee zur «Académie culinaire de France» und Gründung 1888
1879 regte Joseph Favre die Gründung einer internationalen Vereinigung der Köche mit regionalen Sektionen an. 1882 wurde die Sektion Paris gegründet, aus der 1888 die «Académie de cuisine de Paris» entstand, mit Joseph Favre als Generalsekretär. Ziel dieser Einrichtung war es, die Kochkunst unter Berücksichtigung der wissenschaftlichen Aspekte rund um Lebensmittel und Ernährung voranzubringen und sie selbst zur Wissenschaft zu erheben. Dabei sollte die Küchenhygiene als Beitrag zur öffentlichen Gesundheit gefördert werden. Die Bezeichnung «Académie culinaire de France» wurde schliesslich in der Mitte des 20. Jahrhunderts eingeführt, wobei Joseph Favre als ihr offizieller Gründer gilt.
Universallexikon des Kochens und der Lebensmittelhygiene
Das bedeutendste Werk von Joseph Favre ist der vierbändige «Dictionnaire universel de cuisine et d’hygiène alimentaire». Eine genaue Datierung der Publikation ist leider nicht möglich, weil auf der Titelseite kein Erscheinungsdatum steht. Die Erstausgabe erschien vermutlich zwischen 1889 und 1895. 1903 erschien das Lexikon in einer korrigierten und durch den Autor erweiterten zweiten Ausgabe mit dem Titel «Dictionnaire universel de cuisine pratique: encyclopédie illustrée d’hygiène alimentaire». Dieses beeindruckende Werk umfasst rund 2000 Seiten mit Definitionen und thematischen Beiträgen sowie mehr als 6000 Kochrezepte. Das Nachschlagewerk beleuchtet neue Aspekte des Kochens, informiert über die Geschichte und die Herkunft der Produkte, erklärt den Nährwert der Lebensmittel und plädiert für eine gesunde Ernährung.
Bedeutungslosigkeit und Rehabilitierung
Joseph Favre starb am 17. Februar 1903 von der Öffentlichkeit unbeachtet. Ein Mann, eine Zeitschrift, eine Kochakademie, ein Lexikon und was noch? Beruflich war er stets auf der Suche nach der perfekten Kochkunst. Für Joseph Favre war das Essverhalten der Menschen mal barbarisch, mal gefrässig, mal geniesserisch, aber stets ein Abbild der Zivilisation. Die Kochkunst widerspiegle die Entwicklung der Menschheit wie kein anderes Vehikel der Geschichte. Es verging fast ein Jahrhundert, bis die Kochhistoriker Joseph Favre den Platz in der Geschichte zugestanden, der im gebührt.